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Papa will es nochmal wissen: Brevet Bordeaux-Madrid
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Freitag, 1. Juli 2005

*** Bitte beachten Sie: Dieser Artikel ist zwei Jahre alt oder älter. Wir haben ihn nicht gelöscht, weil Inhalte wie Tipps, Hintergründe und Technisches noch immer gültig sind. Ansprechpartner, Produkte und Preise können sich aber zwischenzeitlich geändert haben. Für ein Update rufen Sie uns bitte an! ***

Vom Reiz der langen Distanzen

Sind Sie schon einmal mehr als 50 Kilometer am Stück gefahren? Oder gar über 150? Es geht auch noch mehr. Gunnar Fehlau, Leiter des pressedienst-fahrrad, ist leidenschaftlicher Langstreckenradfahrer. Lesen Sie seinen Bericht – und lassen Sie sich anstecken, mal etwas weiter zu fahren als sonst.

[pd‑f] Seit Ende der 80er Jahre faszinieren mich lange, sportliche Radfahrten. Den Klassiker Trondheim-Oslo bin ich zehnmal gefahren. Auch einige »Brevets«, organisierte Langstreckentouren mit Selbstversorgung, habe ich in den Neunzigern absolviert. Damals, in der Blüte meiner Jugend, frei von beruflichem Stress und familiären Zeitnöten, dafür reich gesegnet mit Ausdauer und Energieriegeln. Zwei Kinder und drei Jobs später sind die Voraussetzungen für solche Touren denkbar schlecht.

Was ich früher in einer Frühjahrswoche abgespult habe, schaffe ich heute kaum in einer Jahreshälfte. Wintertraining? Martins-Singen mit den Kindern und Weihnachtskekse! Doch die Faszination ist geblieben. Als ich vom Brevet »Bordeaux-Madrid« über gut 700 Kilometer höre, denke ich sofort »da fährste mit!« Mein Umfeld reagiert mit Unverständnis. Aber das kenne ich ja…

Solo für Madrid

6.00 Uhr früh in Bordeaux-Bègles: Start. Kaum 50 Radler, darunter fünf Frauen, bilden die Startgruppe mit 84 Stunden Zeitlimit. Das Peloton zerreißt schnell, ein paar »fixe Jungs« spulen los. Ich im Windschatten! Mit 28 km/h über die tellerflachen Straßen Südwestfrankreichs. Tartas, erste Kontrollstelle:Mein Puls ist im roten Bereich – der Preis für den zu schnellen Start. Anfängerfehler! Noch über 550 Kilometer bis Madrid und die Beine schon dick… Eine andere Strategie muss her. Ich verproviantiere mich schnell und rollere weiter. So kann ich mein eigenes Tempo fahren. Wenn dann die Truppe von hinten auffährt, habe ich die Wahl, mitzugehen oder nicht. Vince, ein Ex-Rennfahrer in den 60ern, und Jim, ein drahtiger Ami mit reichlich Brevet-Erfahrung, tun es gleich. Das Ergebnis: wieder jage ich hinter einem Duo her, das Tempo macht. Als das Terrain welliger wird, lasse ich Vince und Jim ziehen. Ich starte meine Alleinfahrt. Sie soll bis Madrid dauern.

Col de la Palombiere – Pass der Speichen
Der erste Pass des Brevets: Col de la Palombiere (337 m). Kurz vor dem Gipfel ein helles »ping-ping-ping!« Die Kette ist zwischen Ritzel und Speichen gerutscht und hat drei von ihnen gekappt. Mit den Speichen reißt auch mein Motivationsfaden. Die Beine sind von 235 Kilometern gezeichnet, der Kopf auch. Eigentlich wollte ich mich heute gemütlich einrollen. Und jetzt stehe ich hier mit leerem Tank und kaputtem Laufrad. Keine gute Basis für die nächsten Tage. Zu Fuß marschiere ich die einsame Straße hinauf.

Bauch verpflichtet

Es ist eins der ehernen Gesetze des Radsports: Je älter und dicker der Fahrer, desto besser seine Ausrüstung. Auch ich habe vor der Tour »aufgerüstet«. Bauch verpflichtet eben. Neuer Rahmen (Felt F 25, Carbon-Gabel, Leichtbausattelstütze, ultraleichter Vorbau. Wenn der Körper schwächelt, soll wenigstens das Material konkurrenzfähig sein. Früher habe ich über solche »Mittvierziger« gelacht und einen Gang höher geschaltet! Damals war die Welt noch in Ordnung: 105 schlägt Dura Ace, Jugend schlägt Alter, Training schlägt Portemonnaie! Heute ist die Welt immer noch in Ordnung, nur habe ich die Seiten gewechselt. Klammheimlich hat sich das Training aus meinem Leben verabschiedet. »Bin ich ein Otto Schily des Radelns: bis zur bösen Überraschung unbemerkt die Seiten wechseln?«, frage ich mich,während ich marschiere. Einzelne Autos überholen mich. Ich strecke den Daumen raus. Und tatsächlich hält einer an, der mich versteht, das gleiche Ziel hat sowie Platz für mein Rad und mich. Um 17.50 Uhr stehe ich vorm Radladen »Majo-Sport« in Ispour. Es bleiben zehn Minuten, um den Monteur zur Reparatur zu überreden.

Zweiter Tag

Heute fahre ich meinen eigenen Rhythmus! Nur Puls und Kopf sollen das Tempo bestimmen. Ein guter Vorsatz für die Königsetappe über drei Pyrenäenpässe. Den Auftakt macht der Col de Ibaneta: 950 Höhenmeter ohne flache Aufwärmphase. Strikt unter Puls 145 kurbele ich auf dem kleinen Kettenblatt. Was habe ich früher nicht alles über die 3‑fach-Kurbler gedacht… Unterhalb des Schlosses von Artajona ist der dritte Kontrollstopp: 352 Kilometer, Halbzeit. Ich fühle mich um Meilen besser als gestern. Vince und Jim waren bereits gestern um 21.30 Uhr hier, ich mache hier Mittagspause. Auf den nächsten 100 Kilometern geht es in Wellen zum 1454 Meter hohen Col de Oncala, dem Dach des Brevets. Irgendwer hat die Kühlung abgeschaltet… Selbst im Hochland sind es mehr als 30 Grad. Ich bin rot wie ein Hummer. Kurz vor dem vierten Kontrollstopp in Yangas überholt mich der Kleinbus mit den Kontrolleuren. So kann ich mich als erster in die Kontrollliste eintragen. »Alles eine Frage der Strategie«, denke ich und fühle mich wie der Sieger eines Zwischensprints bei der Tour de France. Logisch, Vince und Jim sind lange durch, aber nicht offiziell.

Straßenkarneval

Die letzten 300 Höhenmeter zum Col de Oncala sind die anstrengendsten der Tour. Ausgelaugt, von der Sonne gebraten und gegen strammen Wind kämpfe ich mich hinauf, träume dabei von einem Hotelbett. Plötzlich Trommelwirbel, spielende Kinder und angeheiterte Jugendliche in der Persönlichkeitsfindungsphase auf der Straße. Halluziniere ich schon? Bin ich dehydriert? Hat jemand den Kölner Karneval in den Süden verlegt? Hört sich nach einer guten Party an. Doch meine Party feiert die Milchsäure in meinen Beinmuskeln: voll bis zum Rand und reichlich am Lärmen! Auch die Spanier lieben den Karneval. Deshalb sind die Hotels rappelvoll. Kein preiswertes Quartier frei, also kehre ich in ein Vier-Sterne-Hotel ein. Vorteil:Vor den letzten 230 Kilometern nach Madrid gibt es ein luxuriöses Frühstück.

Auf dem Waschbrett bei 40 Grad

Die ausgedruckte Grafik von der Homepage des Veranstalters foppt mich schon wieder mal. O.k., in der ersten Stunde heute erspart mir die Realität 400 Höhenmeter, doch ab dem fünften Kontrollstopp (Kilometer 570) soll es laut Grafik –abgesehen von einer kleinen Welle bei Cogolludo – klar abwärts gehen! Doch die grobe Skalierung verschluckt leider all die kleinen Anstiege. Tatsächlich sind die letzten 100 Kilometer das reinste Waschbrett. Und das bei 40 Grad im Schatten. Unerträglich! Reflexartig steuere ich jede der raren Gelegenheiten zum Nachfüllen der Trinkflaschen an. Übrigens lässt sich Wassereis auch super während der Fahrt essen. Und auch fünf Stück hintereinander! Hiendelaencina, Kilometer 610. Knapp 100 Kilometer noch, da könnte ich den Endspurt starten. Das leicht wellige Terrain mit langen Flachstücken liegt mir eher als die Berge. Hier kann ich meine Rouleur-Neigungen ausspielen. Die Tachonadel pendelt über 30 km/h, ich radele pfeifend dem Ziel entgegen.»Madrid« – das Ortsschild fliegt vorbei, noch 20 Kilometer bis zum Zielort Algete. Den Sprint ohne Gegner gewinne ich klar. Und ich gewinne auch die Einsicht, dass immer noch der Kopf das Rennen macht und nicht nur die Beine. Stimmt’s, Ulle?

Infos zum Brevet Bordeaux-Madrid:
http://www.bordeauxparis.com

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