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PBP Die verlorene Sekunde
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Montag, 20. August 2007

*** Bitte beachten Sie: Dieser Artikel ist zwei Jahre alt oder älter. Wir haben ihn nicht gelöscht, weil Inhalte wie Tipps, Hintergründe und Technisches noch immer gültig sind. Ansprechpartner, Produkte und Preise können sich aber zwischenzeitlich geändert haben. Für ein Update rufen Sie uns bitte an! ***

Die Eckdaten des Rennens „Paris-Brest-Paris“ scheinen wahnsinnig: 1.227 Kilometer binnen 90 Stunden mit dem Fahrrad gegen den Wind, über 360 Hügel und durch tiefe Motivationslöcher. Ein echtes Himmelfahrtskommando, Schmerz, Schlafmangel und reichlich Entbehrungen inklusive. Doch weit gefehlt: Gunnar Fehlau berichtet von einem Rennen voller Hochgefühl und Genuss.

[pd‑f] Warum stellt man sich dieser Herausforderung? Worin liegt der Sinn, vier Tage auf Schlaf zu verzichten und Rad zu fahren? Soviel vorneweg: Weder Wahn noch Epo treiben mich an und übrigens ist es auch einerlei, ob die Strecke zehn, 100 oder 1000 Kilometer lang ist. Wer glaubt, dass es darum geht, der gibt sich bereits an der Oberfläche zufrieden. Wer glaubt, dass das Fahrttempo relevant ist, der glaubt auch noch an die 20 % Rabatt im Praktiker-Baumarkt.

Rotlichtbezirk

Wie einsam waren die nächtlichen Trainingsfahrten mit meinen Kumpels Meinhard und Angelo, die ich während der Qualifikationsfahrten zu PBP kennengelernt hatte! Wir erklommen zu dritt die Hügel der Rhön und umrundeten Kassel nächtens in einem 100-Kilometer-Durchmesser – drei Fahrradleuchten gegen die Dunkelheit einer Nacht.
Was sich hier im Süden von Paris abspielt, sprengt dagegen all meine Vorstellungen. Es ist Montagabend, 20:30 Uhr, hunderte, wenn nicht tausende Radfahrer säumen den Kreisverkehr vor dem „Gymnase des Droits de l’Homme“-Stadion. In einer langen Schlange winden sie sich in Richtung eines Fußgängertunnels. Von dort bahnt sich der Tross den Weg ins Stadion, darin wird er in 500er-Startblöcke portioniert und zurück zum Kreisverkehr bis zur Startlinie geführt. Für diese Schleife habe ich fast 90 Minuten gebraucht … Kaum stehen wir einige Sekunden still, ertönt das Startsignal. Noch bevor sich Nervosität breit machen kann, geht es los. Schwere- und besinnungslos rollen wir die ersten Meter, eine wabernde Masse radelnder Reflexwesten . Nach wenigen Kilometern verlassen wir die Zivilisation mit ihren Häusern, Autos und Lichtern. Wir starren in die Finsternis: Hier, außerhalb des Speckgürtels von Paris, ist die Nacht eine richtige Nacht, kein Streulicht hellt sie auf. Es ist dunkel, sehr dunkel, sonderbar nur der endlose Streifen Rücklichter. Bis zum Horizont reicht die Rüli-Schlange, sie schmiegt sich über das wellige Gelände wie ein Lavafluss. „Magnifique“, denke ich in der Landessprache. Der Blick über die Schulter: das gleiche Bild in weiß – Frontleuchten bis zum Horizont!

Aber da ist noch etwas anderes, dass ich aus keinem Bericht kenne: Alles passiert mit einer beeindruckenden Ruhe“, erinnert sich der Teilnehmer Paul Jurbala aus Kanada. Das Hauchen des Gegenwindes, das Surren der Reifen und der perfekt geölten Ketten … keine Stimme, kein Autolärm, keine Zivilisation. „Es ist wie in einem Zug, man ist im Fluss“, so Jurbala weiter. Man schaut nicht auf die Karte noch auf Tacho oder Pulsmesser – mit sich selbst beschäftigt und dennoch in voller Gemeinschaft. Eine meditative Stille; der Einzelne geht in der Gruppe auf. Keine Führer, keine Geführten, totaler Flow …

Die Kilometer ziehen dahin. Die Nacht saugt uns vollends auf, Raum und Zeit verschwimmen. Der Moment, nur die gegenwärtige Pedalumdrehung zählt. Kein Davor, kein Danach. Alle Aufmerksamkeit gilt diesem Moment: Tritt so, dass du noch Millionen Tritte schaffst; bewege die Beine so, dass die Knie nicht leiden, dass das Arrangement von Po, Hose, Sitzcreme und Sattel nicht aus der Balance gerät. In jedem Moment manifestiert sich das große Ganze und im großen Ganzen zeigt sich der Moment. Radfahren als spiritueller Weg. „Mit zwanzig Kilometern in der Stunde in ein neues Leben“, schrieb Ditte von Arnim über die 21-jährige Ruth Berlau (spätere Geliebte von Bert Brecht), als diese zu einer Solo-Radtour von Kopenhagen nach Paris aufbrach („Der Teufel ist ein schlechter Chauffeur“, S. 103). Besser kann man das Prinzip Paris-Brest-Paris nicht zusammenfassen.

Pffffffff … die Realität hat mich wieder. Ein Platter am Heck sorgt für den Sofortausstieg aus dem Zug. Doch für diesen Moment bin ich gerüstet: Zwei Gaskartuschen habe ich dabei für den schnellen Reifenwechsel, die erste kommt nun zum Einsatz. Drei Minuten später rolle ich wieder.

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Paris-Brest-Paris – kompakt

Der Brevet Paris-Brest-Paris (PBP) ist ein 1.227 km langer Fahrradmarathon (Brevet), initiiert vom Erfinder der Tour de France, Henri Desgrange. Start und Ziel liegen im Pariser Vorort Guyancourt, der Wendepunkt ist in der Stadt Brest in der Bretagne. Entstanden ist PBP aus dem gleichnamigen Radrennen für Profis und Amateure, das erstmals am 6. September 1891 und zuletzt 1956 stattfand (Rekordzeit von Maurice Diot: 38:55 Stunden). Der Brevet findet alle vier Jahre statt, die nächste Austragung ist 2011. Die Strecke ist sehr hügelig, rund 10.000 Höhenmeter verteilen sich auf 360 meist kurze und nicht sehr steile Anstiege. Das Ziel der meisten Teilnehmer ist daher lediglich, die Strecke innerhalb der vorgegebenen Zeit (wahlweise 90, 84 oder 80 Stunden) zu bewältigen. Von den wenigen ehrgeizigen Radfahrern bewältigen die Schnellsten die Strecke in etwa 44 Stunden. Im Gegensatz zu den Qualifikations-Brevets (jeder Teilnehmer muss im gleichen Jahr Brevets über 200, 300, 400 und 600 km erfolgreich absolviert haben) ist die Strecke komplett ausgeschildert. Erlaubt sind alle Fahrzeuge, die zwei oder drei Räder haben und ausschließlich mit Muskelkraft bewegt werden (Liegeräder, Tandems, Dreiräder, Velomobile usw.). Eine funktionierende Beleuchtung und eine reflektierende Weste/Schärpe sind vorgeschrieben. (Quelle u. a. Wikipedia)

Die Strecke

Das Rennen startet in Saint-Quentin-en-Yvelines/Guyancourt, etwa 25 km südwestlich von Paris-Zentrum. Hier ist es bereits hügelig. Die erste „Etappe“ führt über 140 km (1.266 hm) nach Mortagne-au-Perche. Die zweite Passage zur ersten Verpflegungsstation in Villaines-la-Juhel ist 80 Kilometer (789 hm) lang. Nun folgt ein Abschnitt mit 90 Kilometern (884 hm) nach Fougères. Im vierten Segment geht es nach Tinténiac (54 km, 367 hm). Das Ende der fünften Passage, Loudéac, folgt 85 Kilometer (806 hm) darauf und ist ein beliebter Schlafstopp. Die Etappe nach Carhaix (74 km, 767 hm) gilt unter alten Hasen als eine der anstrengendsten, bevor das siebte Teilstück über den längsten (aber recht flachen) und mit 384 Metern über Meereshöhe höchsten Anstieg der Strecke und der Bretagne, den Roc’h Trévezel, zum Wendepunkt nach Brest führt (88 km, 982 hm). Der Rückweg führt über eine teilweise abweichende Strecke nach Carhaix (84 km, 1.054 hm). Die Passage nach Loudéac ist 74 Kilometer lang und hat nur wenige Höhenmeter mehr als der Hinweg (insgesamt 795 hm). Das zehnte Teilstück führt nach Tinténiac (85 km, 716 hm). Ziel der elften Etappe ist in Fougères (54 km, 457 hm). Das Teilstück nach Villaines-la-Juhel (88 km, 992 hm) bietet die famoseste Einfahrt: Stimmung und Arrangement könnte man fast für einen Zielbereich halten. Doch folgen noch reichlich Kilometer: zuerst die Etappe nach Mortagne-au-Perche (81 km, 858 hm). In Dreux (73 km, 561 hm) haben die Organisatoren einen zusätzlichen Stopp eingebaut. Das letzte Teilstück ist „lächerliche“ 66 Kilometer lang, nochmals gespickt mit einigen Anstiegen (511 hm).

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Exkurs: Nein, bitte keine Schulaufsätze mehr!

Jahreskilometer und IQ verhalten sich – so vermute ich bisweilen – konstant (aber gegensätzlich) zueinander: Wer über viele Jahre mehr als 10.000 Kilometer per annum fährt, der scheint neben hospitalisierenden Bewegungsabläufen auch zur allmählichen Hirnrindenverglättung zu neigen. Insofern verwundert es auch kaum, dass die meisten PBP-Berichte einem simplen Schema folgen: Einstieg mit Startbeschreibung, eventuell noch eine Vorbemerkung zum heldenhaften (und familienignoranten) Training, dann eine behutsame Auflistung von Durchschnittsgeschwindigkeiten, verzehrten Kalorien in verschiedensten Darreichungsvarianten, sich ändernden Witterungsbedingungen, Befindlichkeiten und Zuständen diverser Körperteile des Fahrers und Komponenten des Fahrzeugs, schließlich das große Finale: Das Duett von Endzeit und Rechtfertigung. Letztere dient als Vorbereitung für die Abschlussfloskel mit Terminnennung der nächsten Austragung: „Aber eines weiß ich genau: Beim nächsten Start wird alles anders – und natürlich schneller!“ Solche Berichte mögen der intellektuellen Leistungsfähigkeit eines Extremsportlers auf der Zielgeraden entsprechen, sie sind aber kaum hilfreich, der Faszination Extremsport Ausdruck zu verleihen.

Eine Hymne auf den Radsport

„Ich bin Teil einer Ehrerbietung an den Radsport“, schreibt Paul Jurbala in seinem 52-seitigen Rennbericht. „Ausdruck der Faszination fürs Radfahren im Speziellen und den Sport im Allgemeinen. … Paris-Brest-Paris ist alles, was die Tour de France sein könnte, wenn man sie schlicht von Korruption und dubiosen Machenschaften – sprich vom Geld – befreien würde“, führt Jurbala aus.

Denn auch die Begeisterung der Bevölkerung für den Radsport ist famos. „Wer sonst würde sein Abendessen bei Regen ins Freie verlegen, nur weil ein paar Wahnsinnige im Dunklen mit dem Rad vorbeifahren?“, schwärmt Andi Schröder. „Die französische Bevölkerung lebt den Mythos Paris-Brest-Paris mit. Nachts stehen die Leute in den Städten an der Straße und jubeln, in vielen Dörfern werden Zelte aufgebaut, in denen Kaffee und Suppe für jeweils einen Euro verkauft werden, Kinder stehen an den Kreiseln und wollen beim Vorbeifahren abgeklatscht werden. Selbst auf den einsamsten Landstraßen steht ein Auto, davor zwei Gartenstühle mit einem älteren Ehepaar, das sich in dicke Decken gehüllt hat und sich vor Nässe und Kälte schützt, nur um dem Rennen zuzusehen“, erzählt Steffen Benter. Noch höher schlagen die Wellen in den Siedlungen: „In den Dörfern schläft kaum einer. Anwohner regeln den Verkehr, halten uns die Straßen frei und zeigen mit Taschenlampen, wo abgebogen werden muss. Der erste kurze Stopp nach ein paar Stunden: Am Straßenrand vor einer Bäckerei stehen einige Paletten Wasserflaschen und die Inhaber verteilen kostenlos Wasser an alle“, berichtet Ulrich Beckers.

Sprühkühlung zur Mitternacht oder die Götter, die ich rief

Einer der schönsten Aspekte großer Radabenteuer sind die Spekulationen vor dem Start – und so saßen Angelo, Meinhard und ich bei Pizza und Nudeln am Sonntagabend zusammen. Wir ergingen uns in Mutmaßungen zur Strecke, zur Strategie und zum Wetter. Meine Präferenz in Sachen Witterung ist seit Jahren die gleiche und ich mache keinen Hehl daraus, dass ich lieber bei zehn Grad und Regen unterwegs bin als unter sengender Sonne mit 35 Grad im Schatten. Leider sollte ich „ideale Bedingungen“ haben. Gegen Mitternacht setzte Regen ein, binnen weniger Kilometer waren die Schuhe durchnässt. Sie sollten bis Paris nicht mehr trocken werden. In der Nacht kühlte es auf sieben Grad ab, der Regen ließ nicht nach. „Bei diesem Wetter konnte der Motor wenigstens nicht überhitzen“, versucht auch Steffen Benter, diesem Wetter Vorzüge abzuringen.

Die Stimmung sinkt schnell

Bei allen Präferenzen für „nordische Bedingungen“ – die Stimmung leidet dennoch darunter. „Ich dachte an all die Ausrüstung, die ich nicht dabei hatte wie Überschuhe und Helmüberzug, oder an jene, die ich nicht besaß wie Regenhose oder wasserdichte Handschuhe“, erzählt Paul Jurbala sachlich. Deutlich gereizter reagiert Siggi Rühling, der mit Tempo-Ambitionen gestartet ist: „ Was war das nur für ein Wetter? Wir haben August, es ist kurz nach Mittag, es regnet und die Temperatur beträgt elf Grad.“ Je länger dieses Wetter anhält, desto gnadenloser wirkt es sich aus: „Am Wegrand stand ein Schild, das den Weg nach Brest mit 439 km anzeigte. Ich durfte nicht nachdenken, dass wir auch noch den Rückweg vor uns hatten. Es waren somit also noch über 1.000 Kilometer“, schildert Benter seine Panik. Jurbala erinnert sich an diese Phase des Rennens mit der lethargischen Bemerkung bei Villaines-la-Juhel nach etwa 300 Kilometern: „Hier entstand das letzte Foto von mir, auf dem ich lächelte.“
Doch Randonneure ordnen diese Unannehmlichkeiten in einen größeren Zusammenhang: „Wenn wir einfach und schmerzfrei durchs Leben gingen, würden wir niemals etwas dazulernen“, erklärt Rod Dalitz. „Gute Entscheidungen gründen sich auf Erfahrungen, und Erfahrungen sind das Lernergebnis falscher Entscheidungen. Leiden kann einen Vieles lehren!“
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