Menü ☰ ☰ Login
& Suche
625

Cargobikes für Gewerbe – Chancen und Potenziale
Den Artikel als PDF herunterladenPost to FacebookPost to TwitterPost on XingPost on LinkedIn

Dienstag, 21. November 2023

Die Verkaufszahlen von Lastenfahrrädern sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen, die Räder prägen in immer mehr Orten das Stadtbild. Dabei ist ihr Potenzial aber noch bei weitem nicht ausgeschöpft. Gerade bei der gewerblichen Anwendung sehen Fachleute noch starke Zuwachspotenziale; Lieferdienste und Handwerksbetriebe können noch mehr von den Vorteilen des schlauen Transports profitieren. Welche Möglichkeiten sich bieten, aber auch welche Hindernisse bestehen, besprach der pressedienst-fahrrad mit diversen Expert:innen.

Um die CO2-Emissionen auf der letzten Meile in den nächsten Jahren zu senken, sollten mindestens 30 Prozent der gewerblichen Fahrten in deutschen Großstädten bis 2030 mit dem Transportrad erfolgen. So das Ziel des Radlogistik-Verbands Deutschland (RLVD). Martin Seißler, Geschäftsführer der Agentur Cargobike.jetzt und Fachvorstand im RLVD, stellt im Branchengespräch mit dem pressedienst-fahrrad klar, dass die Zielvorgabe jedoch nicht bedeute, andere Fahrzeuge durch Lastenräder zu ersetzen, sondern vielmehr, dass das Wachstum im Logistikbereich in den nächsten Jahren nicht mit konventionellen Fahrzeugen erreicht werden dürfe. „Wir haben insgesamt ein so hohes Wachstum bei der Zulieferer-Logistik, dass wir dieses mit Cargobikes abfangen müssen, damit unsere Städte nicht weiter verstopfen“, so Seißler. Ein wesentlicher Faktor dabei seien selbstverständlich die Fahrradhersteller – und diese haben in den letzten Jahren im gewerblichen Bereich einiges an Verbesserungen geliefert. „Die Hersteller sind bereit“, ist Seißler überzeugt.

Forschung gibt entscheidende Hilfen

Einen wesentlichen Beitrag für Verbesserungen liefert dabei die Forschung. Dr. Johannes Gruber arbeitet seit über zehn Jahren am Institut für Verkehrsforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Bereich Cargobikes, aktuell steht das Projekt „Ich entlaste Städte 2“ auf dem Programm. Dabei können Betriebe aus Handwerk, Dienstleistung und Handel bei einem Langzeittest Alltagserfahrungen mit Transporträdern sammeln. Die Ergebnisse fließen dann wiederum in die Entwicklung von Infrastruktur und natürlich auch von Rädern ein. So wurde beispielsweise in der ersten Testphase von 2017 bis 2020 von 80 Prozent der Teilnehmenden Optimierungsbedarf bei den genutzten Modellen rückgemeldet. Dabei ging es in erster Linie um Verbesserungen an den Transportboxen und die Steigerung des Fahrkomforts. Bei den diesjährigen Testmodellen sollen bereits Verbesserungen, z. B. durch optimierte Transportboxen, zu erfahren sein. Aktuell können 45 Räder unterschiedlicher Größenordnungen getestet werden. Dazu zählen erstmals auch Light Electric Vehicles (LEV) – die mit Fahrer:innen-Kabinen oder als Mehrspurfahrzeuge über die üblichen Maße eines Lastenrads hinausreichen. „Wir haben die Vermutung, dass manche Betriebe nicht sofort auf das Fahrrad umsteigen wollen. Vielleicht sind die LEVs der Lückenschluss zwischen Transporter und Fahrrad. Mit dem Test wollen wir auch herausfinden, ob LEVs bei Wetterschutz und Komfortbedürfnissen den Anforderungen gerecht werden“, erklärt Gruber. Das Ziel der Forschenden ist die Klärung der Fragen: Welche Fahrzeuge braucht man und was können die bereits vorhandenen Fahrzeuge leisten?

Fahrrad mit langem Gepäckträger und Anhänger mit KartonsPotenzial liegt bei Handwerksbetrieben

Das Forschungsprojekt zeigt auch überraschende Ergebnisse: So würden Paketdienstleister bei weitem nicht den größten Anteil am gewerblichen Verkehr ausmachen – obwohl man das subjektiv meinen könnte „Das Potenzial liegt bei den örtlichen Betrieben wie Handwerkern und Händlern“, so Seißler. Anders als die vollbeladenen Paketdienstleister nutzten viele kommunale Betriebe ihre Transporter oft zum Transport von Kleinigkeiten – sie könnten die Dienstfahrten also auch mit kleineren Fahrzeugen absolvieren. Außerdem sei „die Parksituation für Handwerksbetriebe zu einem wesentlichen Faktor geworden. Sie finden keine Parkplätze und stehen viel länger im Weg als Lieferdienste. Hier haben Cargobikes deutliche Vorteile“, weiß Seißler.

Auszubildene werden autark

S‑Pedelecs spielen indes für Gewerbetreibende kaum eine Rolle. Der Zeitgewinn durch das schnellere Zweirad ist in der Stadt vernachlässigbar gering, da man nicht auf Radwegen fahren darf, sondern sich im stockenden Autoverkehr einordnen muss. Ein weiterer Grund mag überraschen, ist aber gerade für Handwerksbetriebe entscheidend: S‑Pedelecs gelten als Kleinkrafträder und die Nutzer:innen brauchen mindestens einen Führerschein der Klasse AM. Oft besitzen aber vor allem Auszubildende noch keine Fahrerlaubnis. „Viele Unternehmen finden das Lastenrad attraktiv, um Mitarbeiter:innen ohne Führerschein ein eigenständiges Arbeitsleben zu ermöglichen“, erklärt Kirsten Havers, Projektkoordinatorin bei Cargobike.jetzt. Sie organisiert aktuell das Projekt „Flottes Gewerbe“, bei dem in Beispielkommunen Gewerbetreibende die Möglichkeit bekommen, unterschiedliche Lastenräder zu testen. Aktionen gab es dieses Jahr u. a. in Düsseldorf, Stuttgart, Frankfurt/Main, Karlsruhe und Bamberg. „Lastenräder lassen sich sehr gut mit dem bestehenden Fuhrpark der Unternehmen kombinieren. Man muss den Betrieben einmal die Möglichkeiten aufzeigen, die sie dadurch bekommen“, so Havers.

Transporträder unterscheiden sich immer mehr

„Cargobike ist nicht gleich Cargobike, auch wenn es gerne mit einem Überbegriff kommuniziert wird“, sagt Johannes Rasche, Designer beim Hersteller Ca Go. Die Ausdifferenzierung der Produkte schreitet immer weiter voran und wird zudem sichtbarer. Die Aufgabe sei nun, „das richtige System für die richtigen Anwendungsfälle zu finden“, wie Rasche erklärt. Er vergleicht Transporträder deshalb gerne mit den Entwicklungen in der Automobilindustrie: Hier gibt es unterschiedliche Transportfahrzeuge für unterschiedliche Anwendungen. Ein Weg, der auch für den Radbereich interessant werden könnte. „Wir müssen den Sprinter als Cargobike gestalten“, so Rasche. Seine Idee: Eine Basisplattform, wahrscheinlich mit Ladefläche hinten, schaffen, die mit einem variablen Laderaumsystem an die Bedürfnisse angepasst werden kann – von großer Zuladung bis hin zur Anbringung von Kühlboxen. „Alle wirtschaftlichen Anforderungen an dieses Fahrzeug müssen erfüllt sein, dass es konkurrenzfähig zum Transporter wird. Nutzer:innen müssen es akzeptieren. Das geht nur, wenn wir keinen Rückschritt zum Auto machen. Dafür müssen wir ein allgemeines, aber trotzdem spezielles Produkt schaffen“, meint Rasche.

Das junge Unternehmen Moca greift diese Ideen auf, setzt dabei aber als Basisplattform auf ein normal-fahrradgroßes Konzept. Durch diverse Gepäckträgerlösungen können die Räder deutlich mehr Gewicht aufnehmen und sind für den urbanen Raum geschaffen, weil sie beim Parken weniger Platz wegnehmen als andere Lastenräder. „Wir wollen die Nische zwischen Longtails und dreirädrigen Lastenrädern schließen. Interessant für Gewerbe wird das Rad, da man diverse Kisten, Boxen und ähnliches anbringen und so seine Utensilien transportieren kann“, beschreibt Martin Hanke, Business Developer von Moca. Der Hintergrund für die Entwicklung: Es wird immer enger in den Städten und deshalb sind Lösungen wichtig, die platzsparend und kompakt sind. Z. B. wollen Gewerbetreibende ihre Räder sicher und vor allem witterungsgeschützt abstellen können. „Ein wichtiger Punkt ist die einfache Servicefähigkeit der Räder – gerade Unternehmen sind auf Lösungen angewiesen, die bei Bedarf auch schnell repariert werden können“, so Hanke. Erst so könne das Thema auf den Massenmarkt überspringen.

Sharing und Verleih als elementare Stütze

Für die Verbreitung ist zentral, dass die Menschen durch Testmöglichkeiten in Kontakt mit den Rädern kommen. Benjamin Wenz, Presse-Koordinator beim Hersteller Riese & Müller, erkennt: „Viele Menschen können sich nicht vorstellen, was man mit Cargobikes überhaupt machen kann.“ Der E‑Bike-Hersteller aus der Nähe von Darmstadt hat während der Corona-Lockdowns ausgewählten Darmstädter Unternehmen kostenlos Lastenräder für Auslieferungen zur Verfügung gestellt. „Das wurde supergut angenommen. Manche Betriebe konnten sich dadurch retten“, sagt Wenz. Daraus resultierte dann die Idee, Gewerbetreibenden Cargobikes zur Miete anzubieten. Für fünf Euro am Tag können sie aktuell bei Riese & Müller ausgeliehen werden. Speziell für Kleinunternehmen erweist sich das Konzept als sehr interessant. Außerdem unterstützt der Hersteller die Initiative Carvelo2go in der Schweiz, bei der Shopbetreiber:innen ihren Kundinnen und Kunden Räder zum Leihen anbieten können. „Durch Sharing- und Rent-Angebote kommen Menschen mit dem Thema überhaupt erst in Kontakt“, weiß Wenz. Für Deutschland sieht er ein solches Konzept allerdings kritisch, da es aktuell keine einheitliche Lösung gibt und erste Kommunen sich bereits gegen sogenannte Free-Floating-Aktionen wehren. Dabei können die Räder nach der Nutzung einfach abgestellt werden. Das Problem: Es besteht ein hoher personeller und organisatorischer Aufwand, um die Räder dorthin zu bringen, wo sie eigentlich gebraucht werden.

Infrastruktur muss angepasst werden

Trotz aller Euphorie um das Thema Lastenrad bleibt ein wesentlicher Kernpunkt: Der Platzbedarf auf den Radwegen ruft gesellschaftliche Spannungen hervor und sorgt dafür, dass Transporträder mitunter als Verkehrshindernis und nicht als Verkehrsentlastung wahrgenommen werden. Der begrenzte Platz muss deshalb besser geplant werden. „Wir gewinnen durch Cargobikes mehr Platz in der Stadt,“ ist Seißler überzeugt und richtet noch einen Appell an die Kommunen: „Die Radlogistik steht in den Startlöchern. Die Tore für mehr Cargobikes müssen von den Kommunen geöffnet werden. Oder anders gesagt: Die Tore für große Fahrzeuge müssen geschlossen werden.“ Erst, indem es anderen Fahrzeugen schwieriger gemacht werde, würden die Entscheidungen pro Transportrad bei den gewerblichen Anbietern zunehmen.

Thomas Geisler | pressedienst-fahrrad

Passende Themen beim pd‐f:

Die Mobilitätswende endet nicht im September

Zehn Transportlösungen als Ersatz fürs Auto

Unterwegs in der Stadt – neue Cargobikes und Sicherheitsfeatures

Zukunft der Mobilität: Vieles ist möglich

Wo parke ich mein Fahrrad?


Zurück zur Übersicht: Allgemein, Zurück zur Übersicht: Themenarchiv