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Alpe d’Huez
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Donnerstag, 3. Juli 2008

*** Bitte beachten Sie: Dieser Artikel ist zwei Jahre alt oder älter. Wir haben ihn nicht gelöscht, weil Inhalte wie Tipps, Hintergründe und Technisches noch immer gültig sind. Ansprechpartner, Produkte und Preise können sich aber zwischenzeitlich geändert haben. Für ein Update rufen Sie uns bitte an! ***

Am 23.Juli 2008 wird die 17. Etappe der Tour de France in L’Alpe d’Huez enden. Radsport-Journalist Caspar Gebel war 2004 für den pressedienst-fahrrad in Frankreich. Lesen Sie hier seine Reportage.

Alpe-Traum für Anfänger

Einfach mal den berühmtesten Anstieg der Tour de France hochfahren, ganz ohne Training? Was einer Gruppe radsportlich eher unerfahrener, dafür aber umso mutigerer Frankreich-Besucher gelang, nötigte so manchem alten Hasen einigen Respekt ab – und zeigt, dass man mit der richtigen Einstellung auf dem Rad eigentlich vor nichts Angst haben muss.

Stefans SMS erreicht mich im Entspannungsurlaub am Bodensee: „Heute die Alpe in 58:33 gefahren, am Kreisverkehr oben noch falsch abgebogen. See you, Steve.“ Mist, hätte ich dem alten Schweden gar nicht zugetraut! Stefan, sechs Jahre älter als ich und als Arzt und Vater nicht gerade mit übermäßig viel Trainingszeit ausgestattet, wirft mich mit seinen Heldentaten immer wieder aus der Bahn. Unter einer Stunde, und das, obwohl er sich offensichtlich auch im Ort verfahren hat! Meine Zeit von knapp 1:07 konnte ich bisher mit der Tatsache entschuldigen, dass die Kreide-Pfeile, die unser Reiseleiter oben in Alpe d’Huez auf den Asphalt gemalt hatte, durch einen nächtlichen Platzregen ausgelöscht wurden. Diverse Schlenker waren die Folge, bevor ich den Zielstrich erreichte. Nun muss ich nochmal hinfahren und Stefans Zeit einstellen.

Ob der Berg gerufen hat, weiß man erst, wenn man oben ist. Bis dahin ist eine gesunde Portion Selbstkritik angesagt – kann ja sein, dass man sich hat verleiten lassen, gar nicht weiß, was auf einen zukommt. Kann sein, dass man scheitert, weil das, was man für einen Ruf hielt, nur das Echo des eigenen Wun sches war. Die Bergriesen jedenfalls, die sich auf der Fahrt nach Bourg d’Oisans zu den Fenstern unseres Minibusses hineinlehnen wollen, sehen nicht sehr verlockend aus. Und auf so einen wollen wir rauf? Mit dem Fahrrad? Kein Problem, hat Gunnar gesagt. Nicht den Respekt verlieren, immer schön ruhig bleiben. Nehmt euch Zeit, dann klappt das schon. Aber der hat gut Reden – Gunnar Fehlau vom Pressedienst Fahrrad, unser Reiseleiter, schreckt auch vor der 540-Kilometer-Fahrt von Trondheim nach Oslo nicht zurück – nonstopp, bei Dauerregen, etwas, das viele schon mit dem Auto unangenehm fänden.

L’Alpe d’Huez, der Ort, zu dem uns Gunnar hinauf führen will, ist im normalen Leben die „Talstation“ eines Skigebiets, gelegen auf 1800 Meter Meereshöhe. Von hier aus kann man per Schlepplift bis auf 3 300 Meter aufsteigen – für Wintersportler Durchgangs‑, Wohn- und Startort ins eisige Abfahrtsvergnügen. Unter Radsportlern jedoch hat dieser Name einen mythischen Klang. Alpe d’Huez, das sind nicht die klotzigen Hotelbauten, nicht die Holzfassaden im Alpen-Look, auch nicht die zahllosen Souvenirshops. Alpe d’Huez sind die 21 Haarnadelkurven, die 1 143 Meter Höhendifferenz auf 13, 5 Kilometer Anstieg. Alpe d’Huez ist der Weg, nicht das Ziel.

Wer Alpe d’Huez hochfährt, schaltet die Stoppuhr an. Kaum ein Berg lädt so zum Aufstellen persönlicher Bestzeiten ein, denn bei keinem sind die Streckenrekorde so übersichtlich. Pantani 1997: 37:35; Armstrong 2004 (Einzelzeitfahren): 39:41 – das sind Zahlen, unter denen man sich etwas vorstellen kann und an denen sich die eigene Leistung prima messen lässt. Bloß eine halbe Stunde länger als Pantani – das ist doch schon was!

Die meisten Mitglieder unserer kleinen Reisegruppe sind jedoch keineswegs vom Ehrgeiz getrieben, Zahlen zu produzieren, mit denen sie zu Hause angeben können. Einziger „richtiger“ Radsportler ist Mark, immerhin aktiver C‑Fahrer, der sich am Ende als Schnellster erweisen wird, allerdings wie ich mit über einer Stunde Fahrzeit. Ansonsten hat Gunnar einen bunten Haufen mehr oder weniger sportlicher Presseleute eingeladen, von denen nicht wenige die Reise in die französischen Alpen regelrecht aufgedrängt bekamen – von ihrem jeweiligen Vorgesetzten und den Kollegen, die sich das Abenteuer Alpe d’Huez nicht zutrauten und nun froh sind, dass ein anderer die Kastanien aus dem Feuer holt.

Im Minibus vom Lyoneser Flughafen nach Bourg d’Oisans, dem Städtchen direkt unterhalb der Alpe, herrscht verschlafenes Schweigen. Wir nähern uns den Bergen, fahren entlang der Rhône, die sich in kaltem Blauton durch ihr weißes Geröllbett schiebt. Mitte Mai ist anderswo schon längst Sommer angesagt; hier tragen die Berge noch Schneespitzen und längst nicht jeder Baum schmückt sich mit frischem Grün. Aber die Sonne hat bereits echte Radsport- Qualitäten, und als unser Bus dann den ersten Rennradfahrer überholt, fängt der Zauber von Alpe d’Huez an zu wirken.

Unser Campingplatz heißt „La Piscine“ und ist sozusagen der letzte Stopp vor der Alpe, denn 50 Meter weiter kommt die Eingangsrampe mit ihren zweistelligen Steigungsprozenten. Das Team unseres Gastgebers hat ganze Arbeit geleistet und das Gelände in ein veritables Fahrerlager verwandelt. Technikus Frank-Steffan schraubt an zwei Felt-Rennern gleichzeitig, montiert hier noch einen längeren Vorbau, dort eine Dreifach-Kurbel, während er eine Gruppe von Rennrad-Neulingen in groben Zügen die Funktionsweise eines STI-Hebel erklärt. Nebenan machen Michaela und Thomas von Ontrack unter einem roten Carport ihr Equipment für die Leistungsmessung klar. Und zu allem Überfluss treibt sich auch noch eine Gruppe gut gelaunter und neugieriger Niederländer in unserem Camp herum, die natürlich wissen wollen, wer da so einen Aufwand betreibt, und uns haarklein das ausgesprochen beeindruckende Radsport-Programm ihrer Urlaubswoche auseinandersetzen.

Unsere Tour hinaus zur berühmtesten Bergankunft der Tour de France findet unter professionellen Bedingungen statt: Jeder Teilnehmer unterzieht sich am Tag vor der Kletterpartie einem Leistungstest, dessen Ergebnisse dann mit den Daten des Aufstiegs abgeglichen werden. Wer am Berg was geleistet hat, lässt sich einfach ausrechnen: Der zu überwindende Höhenunterschied und die Streckenlänge ist bekannt, fehlt nur noch das jeweilige Fah rergewicht inklusive Material und die Fahrzeit, um zu berechnen, welche Leistung jeder von uns erbracht hat.

Wer Alpe d’Huez hochfährt, schaltet die Stoppuhr an. Kaum ein Berg lädt so zum Aufstellen persönlicher Bestzeiten ein, denn bei keinem sind die Streckenrekorde so übersichtlich. Pantani 1997: 37:35; Armstrong 2004 (Einzelzeitfahren): 39:41 – das sind Zahlen, unter denen man sich etwas vorstellen kann und an denen sich die eigene Leistung prima messen lässt. Bloß eine halbe Stunde länger als Pantani – das ist doch schon was!

Die meisten Mitglieder unserer kleinen Reisegruppe sind jedoch keineswegs vom Ehrgeiz getrieben, Zahlen zu produzieren, mit denen sie zu Hause angeben können. Einziger „richtiger“ Radsportler ist Mark, immerhin aktiver C‑Fahrer, der sich am Ende als Schnellster erweisen wird, allerdings wie ich mit über einer Stunde Fahrzeit. Ansonsten hat Gunnar einen bunten Haufen mehr oder weniger sportlicher Presseleute eingeladen, von denen nicht wenige die Reise in die französischen Alpen regelrecht aufgedrängt bekamen – von ihrem jeweiligen Vorgesetzten und den Kollegen, die sich das Abenteuer Alpe d’Huez nicht zutrauten und nun froh sind, dass ein anderer die Kastanien aus dem Feuer holt.

Im Minibus vom Lyoneser Flughafen nach Bourg d’Oisans, dem Städtchen direkt unterhalb der Alpe, herrscht verschlafenes Schweigen. Wir nähern uns den Bergen, fahren entlang der Rhône, die sich in kaltem Blauton durch ihr weißes Geröllbett schiebt. Mitte Mai ist anderswo schon längst Sommer angesagt; hier tragen die Berge noch Schneespitzen und längst nicht jeder Baum schmückt sich mit frischem Grün. Aber die Sonne hat bereits echte Radsport- Qualitäten, und als unser Bus dann den ersten Rennradfahrer überholt, fängt der Zauber von Alpe d’Huez an zu wirken.

Unser Campingplatz heißt „La Piscine“ und ist sozusagen der letzte Stopp vor der Alpe, denn 50 Meter weiter kommt die Eingangsrampe mit ihren zweistelligen Steigungsprozenten. Das Team unseres Gastgebers hat ganze Arbeit geleistet und das Gelände in ein veritables Fahrerlager verwandelt. Technikus Frank-Steffan schraubt an zwei Felt-Rennern gleichzeitig, montiert hier noch einen längeren Vorbau, dort eine Dreifach-Kurbel, während er eine Gruppe von Rennrad-Neulingen in groben Zügen die Funktionsweise eines STI-Hebel erklärt. Nebenan machen Michaela und Thomas von Ontrack unter einem roten Carport ihr Equipment für die Leistungsmessung klar. Und zu allem Überfluss treibt sich auch noch eine Gruppe gut gelaunter und neugieriger Niederländer in unserem Camp herum, die natürlich wissen wollen, wer da so einen Aufwand betreibt, und uns haarklein das ausgesprochen beeindruckende Radsport-Programm ihrer Urlaubswoche auseinandersetzen.

Unsere Tour hinaus zur berühmtesten Bergankunft der Tour de France findet unter professionellen Bedingungen statt: Jeder Teilnehmer unterzieht sich am Tag vor der Kletterpartie einem Leistungstest, dessen Ergebnisse dann mit den Daten des Aufstiegs abgeglichen werden. Wer am Berg was geleistet hat, lässt sich einfach ausrechnen: Der zu überwindende Höhenunterschied und die Streckenlänge ist bekannt, fehlt nur noch das jeweilige Fah rergewicht inklusive Material und die Fahrzeit, um zu berechnen, welche Leistung jeder von uns erbracht hat.

Erst einmal lassen wir unsere Betreuer machen und genießen die sommerlichen Tem peraturen und das großartige Bergpanorama. Auf der Veranda eines Camping-Chalets den Kaffee schlürfend, den uns Christelle von der Caravaning Informations GmbH anbietet, betrachten wir die Felswand, die sich uns gegenüber auftürmt. Das soll Alpe d’Huez sein? Wo, bitteschön, ist da eine Straße?

Auf die richtige Spur bringt uns ein LKW, der sich im Zickzack nach oben kämpft. Immer wieder verschwindet er kurz, um dann in die andere Richtung fahrend und ein gutes Stück höher wieder aufzutauchen. Irgendwann ist er ganz verschwunden – von unten überblickt man nämlich nur die ersten 260 Steigungsmeter. Wer nach drei Kilometern den Weiler La Garde erreicht hat, kann sich zwar darüber freuen, die steilsten Passagen hinter sich gelassen zu haben, doch es warten immer noch zehn Kilometer mit 880 Höhenmetern.

Schließlich werde ich von der Veranda weg zur Leistungsmessung gerufen. Thomas, der Geschäftsführer von Ontrack, dem mobilen Leistungsdiagnostik-Institut, das jedes Frühjahr durch Deutschland tourt, um in Radsportläden seine Dienste anzubieten, klemmt mein Fahrrad mit ausgebautem Hintergrund in eine Art Trainingsrolle, die über ihren eigenen Zahnkranz verfügt. So kann sich jeder Sportler auf seiner gewohnten Maschine testen lassen und muss nicht fürchten, aufgrund eines ungewohnten Rennrads nicht die volle Leistung bringen zu können. Thomas’ Kolle gin Michaela übernimmt die wenig schmerzhafte Prozedur des Blut ab nehmens am Ohrläppchen. Alle drei Minuten wird der Widerstand der Rolle in 30-Watt-Schritten erhöht – so lange, bis der Sportler nicht mehr schwerer treten kann, das Laktat in die Beine schießt und die Herzfrequenz in den roten Bereich schnellt. Anhand der „Laktatleistungskurve“, die sich aus den regelmäßigen Messungen der Laktatkonzentration im Blut ergibt, kann das Team von Ontrack genau bestimmen, wo der aerob-anaerobe Übergangsbereich eines Sportlers liegt, in dem er gerade noch so eine dauerhaft hohe Leistung erbringen kann, und wo die anaerobe Schwelle liegt, bei deren Überschreiten die ganze Sache aus dem Ruder läuft.

Bei mir wird der Stufentest bei 300 Watt abgebrochen; als obere Grenze des Übergangsbereichs lese ich „264 Watt“ auf dem Diagnose-Formular, das mir Thomas mit umfassenden Erläuterungen in die Hand drückt. Angesichts eines gerade überstandenen Bandscheibenvorfalls und entsprechend geringer Trainingsumfänge nicht schlecht, denke ich mir.

Die Ergebnisse der Leistungsdiagnostik dienen bei der Bergfahrt am nächsten Tag dazu, eine Startreihenfolge festzulegen. Gunnar hat geplant, statt eines Massenstarts ein Einzelzeitfahren wie bei der Tour de France 2004 zu veranstalten, bei dem die schwächeren Fahrer zuerst starten und sich nach und nach von den schnelleren Leuten einholen und anfeuern lassen können. Das Ontrack-Zelt wird zur Startrampe, Gunnar hält die Fahrer fest und Thomas ist der Countdown-Mann. Vom Start weg Gas zu geben, empfiehlt sich jedoch allein deswegen nicht, weil das Zelt auf dem Campingplatz steht und erst einmal die schlecht einsehbare Ausfahrt zur Hauptstraße gemeistert werden muss. Mark, der C‑Fahrer und Camping-Spezialist, hat zusammen mit mir die Ehre, ganz am Schluss starten zu dürfen, wobei ich ihm dank minimal besserer Watt-Werte den Vortritt lassen muss. Wir beobachten die Startprozedur unserer Mitstreiter, die teilweise ganz schön aufgeregt sind – kein Wunder, denn einige von ihnen haben noch nie auf dem Rennrad gesessen, von Alpen-Erfahrungen ganz zu schweigen. Immerhin: Versagensängste hat niemand, was zu einem guten Teil Gunnars Motivationsansprachen und Radsport-Tipps zu verdanken ist. Zum Beispiel dem, sich auf keinen Fall an einen schnelleren Fahrer zu hängen: „Wenn der wirklich stärker ist als ihr, könnt ihr ihn sowieso nicht halten. Und wenn er überdreht, seht ihr ihn nach ein paar Kilometern bestimmt wieder.“

Das Gute an Alpe d’Huez ist, dass die schlechte Nachricht zuerst kommt: Anstatt beim Klettern die schöne Landschaft zu genießen, ist sofort beim Einstieg in den Berg leiden angesagt. Bereits vor der ersten Kurve bin ich froh, überhaupt eine zweistellige Geschwindigkeit zustande zu bringen. Der Versuchung, mir noch einen leichten Gang aufzusparen – vor der Gunnar uns eindringlich gewarnt hat –, kann ich gar nicht unterliegen;
beinahe automatisch wandert die Kette ganz nach innen. Mit 39 x 27 kann ich immerhin einen relativ flüssigen Tritt halten. Zusätzliche Moti va tion erhalte ich dadurch, dass ich schon nach zwei Haarnadelkurven den ersten unserer Mitstreiter vor mir sehe. Gemeinsam mit Martin erreiche ich La Garde, der Ort an dem man sich es noch mal überlegen kann, denn nach rechts biegt eine Straße ab, die zurück zur N 91 von Grenoble nach Briancon führt. Hier oben ist es für eine kurze Weile etwas flacher, doch dann geht das Kurvengeschlängel so richtig los. Kein Wunder, dass sich hier Jahr für Jahr hunderttausende Zuschauer sammeln: Durch die übereinander getürmten Asphaltbänder und den weit geschwungenen Kurven bietet sich ein guter Überblick über das Renngeschehen, denn man kann die Fahrer schon von weitem beobachten. Für den Aktiven bieten die Kurven (jedenfalls, wenn sie nicht mit Zuschauern vollgestopft sind) eine gute Gelegenheit, sich kurz zu erholen, denn die Straße ist so breit, dass die Steigung außen in der Kehre minimal ist. Was man durch den größeren Kurvenradius an Zeit verschenkt, gewinnt man durch eine kurze Verschnaufpause. Und so langsam wird auch die Szenerie interessanter: Den grandiosen Blick übers Tal weiter unten konnte man eh nicht genießen; nun erfreuen sattgrüne Wiesen mit gelben Blümchen das Auge, kleine Wasserläufe sprudeln hier und da aus der steilen Böschung und rings herum sonnen sich die Berge unter knallblauem Himmel.

Nach und nach rolle ich die Mitglieder meiner Gruppe auf – die zierliche Helwi kurbelt strahlend und mit lockerem Tritt bergauf, im Wiegetritt stapft etwas weiter oben Karsten aus Rostock mit dem Piratentuch auf dem Haupt durch die Haarnadel kurven. Irgendwann werde ich von Thomas und Michaela im Auto eingeholt. Sie rollen kurz neben mir her, um mich anzufeuern, und Michaela drückt mir auf meine Frage nach etwas zu essen ein Tütchen mit Powergel in die Hand. Noch bevor ich realisiere, dass meine Trinkflasche nahezu leer ist, brausen die beiden davon. So muss ich das süße Zeug fast unverdünnt hinunterkriegen. Zweieinhalb Kilometer hinter La Garde liegt das Örtchen Huez-en-Oisans, und hier wird die Straße erstmals deutlich flacher. Jetzt nicht übertreiben, denke ich mir, während ich meine Kette die Ritzelböschung hinunter wandern lasse. In Huezen- Oisans liegen bereits 8,5 Kilometer Bergfahrt mit gut 760 Höhenmetern hinter dem Radsportler, die nun folgenden drei Kilometer mit durchschnittlich 7,7 Prozent Steigung sind da verhältnismäßig einfach zu fahren. Außerdem hat man nun immer wieder mal das Ziel im Blick – die holzverkleideten Häuserfronten von L’Alpe d’Huez oben am Hang. Allerdings geht es vom Ortseingang noch einmal rund 1,5 Kilometer 75 Höhenmeter zwischen Hotels und Souvenirläden hindurch; teilweise so flach, dass man auch nach einer guten Stunde der Kletterei die große Scheibe auflegen und noch einmal richtig schnell fahren kann. Oder eben sich verfahren: Links oder rechts aus dem Kreisverkehr? Und immer der steilsten Straße folgen oder eher versuchen, um die Häuser herum aus dem Ort zu fahren? Das Einzige, was ich von den Fernsehübertragungen der Tour de France noch im Kopf habe, ist eine Straßenunterführung kurz vor dem Ziel – im TV immer der Moment, wo zur Zielkamera übergeblendet wird, die die Fahrer von vorne erfasst.

Später erfahren wir, dass Gunnar am Abend zuvor den ganzen Ort mit Kreidepfeilen vollgemalt hat, um jedweder Verwirrung vorzubeugen. Doch die sind anscheinend durch einen nächtlichen Regenschauer komplett ausgelöscht worden. Bei mir hat das einen wirklich dämlichen Umweg zur Folge: Statt die letzte Linkskurve mit Schwung zu nehmen und mit dem großen Gang auf die ansteigende Zielgerade zu sprinten, überfahre ich die Linie von der anderen Seite. Die Verwirrung ist nur kurz, dann notiert Thomas meine Zeit und Michaela nimmt mir noch einmal Blut ab, um meinen Laktatwert nach dem „Rennen“ bestimmen zu können. Ich lasse die Prozedur äußerlich ruhig über mich ergehen, aber in Wirklichkeit bin ich auf 180. Wenn schon ein Zeitfahren nach L’Alpe d’Huez, dann auch richtig! Doch nur wenige Augenblicke später ebbt der Adrenalinschub ab. Angekommen! Zwar nicht unter einer Stunde, doch immerhin ziemlich zügig und ohne größere Qualen. Besonders freut mich jedoch später das Ergebnis von Thomas’ Rechenexempel: Aus meinem Gewicht, meiner Fahrzeit und den Streckendaten, dass ich im Schnitt 264 Watt aufs Pedal gebracht habe, was genau an meiner am Vortag gemessenen anaeorben Schwelle liegt. Will heißen: Ich hätte kein bisschen schneller fahren können, habe alles gegeben! Und darauf kommt es im Radsport schließlich an.

Bis der letzte Starter im Ziel ist, vergeht nach meiner Ankunft noch eine gute Stunde. Zusammen mit Gunnar, der sich als Kontrollfahrer betätigt, um abgeschlagene Teilnehmer sicher ins Ziel zu bringen, rollen die Letzten ein, genießen den Jubel der versammelten Mannschaft. Bald darauf geht es geschlossen zu Tal, wobei sich zeigt, dass auch das Abfahren auf der Rennmaschine eine Kunst ist, die manchem Neueinsteiger schwer fällt. Martin, der als langsamster Einzelfahrer oben war, gehört bergab zu den Schnellsten – als passionierter Motorradfahrer hat er ein gutes Auge für die Ideallinie durch die Kurven. Ich halte mich zurück, fahre neben Andrea her, die sich anfangs mit schleifender Bremse hinuntertastet. Es dauert ein Weilchen, doch schließlich habe ich sie soweit, dass sie der Verzögerungsleistung ihrer Shimano-Stopper vertraut und auch mal rollen lässt, bevor die nächste Kehre naht. Unten auf dem Campingplatz herrscht nach einer kurzen Mittags ruhe eine Bombenstimmung. Wer am Morgen noch nicht daran glauben mochte, diesen Berg wirklich mit dem Rad zu bezwingen, nimmt nun ganz besonders stolz von Gunnar seine Siegerurkunde entgegen. Der Pressemann hat sich für jeden von uns eine Kategorie ausgedacht, in der wir jeweils Erster werden – ich belege den höchsten Platz auf dem Treppchen in der Wertung „Falschfahrer“ …

Text: Caspar Gebel, Fotos: Jürgen Mai / www.pd‑f.de

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