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Stollige Geschichtsbewältigung
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Dienstag, 16. März 2010

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Die Grenzsteintrophy führte Mountainbiker 1.280 km über die ehemalige innerdeutsche Grenze.

Von Gunnar Fehlau, Leiter des pressedienst-fahrrad und Initiator der Grenzsteintrophy.

19 Mountainbikes lehnen an Bäumen und Laternen, der Zugang zum FKK-Strand ist mit Rucksäcken, Helmen und Packtaschen versperrt. Auf der anderen Seite des schmalen Weges klappt der Pächter der Gaststätte Priwall-Treff die Läden seines Straßenverkaufs hoch. Über dem angrenzenden Zeltplatz liegt noch die gespenstische Ruhe eines frühen Ferienmorgens. Franky B. zurrt die Riemen seiner Packtaschen fest, der dünne Mittvierziger prüft zum zigsten Mal seine Ausrüstung, denn in wenigen Minuten startet die Grenzsteintrophy.

Die Grenzsteintrophy

Die Grenzsteintrophy ist eine 1.280-km-Mountainbikefahrt, die erstmals 2009 anlässlich des 20. Jubiläums des Mauerfalls entlang des einstigen innerdeutschen Grenzstreifens von Lübeck-Travemünde bis nach Mittelhammer im Vogtland führte. Die Grenzsteintrophy ist kein Rennen, aber auch keine gemütliche Radeltour: Sie ist eine „Selbstversorgerfahrt“. Die Selbstversorger-Regeln sind einfach: keine Begleitfahrzeuge, keine fremde Hilfe, keine Vorausplanung; alles, was die Fahrer auf der Strecke benötigen, müssen sie selbst transportieren oder unterwegs kaufen. Den Begriff „Rennen“ vermeiden die Initiatoren nicht nur aus juristischen Gründen: „Die GST ist kein Rennen; wir wollen Solidarität unter den Teilnehmern statt Konkurrenz“, erklärt Mitorganisator H. David Koßmann, der hauptberuflich beim pressedienst-fahrrad arbeitet. Dass die GST, wie die Grenzsteintrophy in bewusster Anspielung auf das gleichlautende Kürzel der paramilitärischen DDR-Jugendausbildung „Gesellschaft für Sport und Technik“ abgekürzt wird, keine Touristikveranstaltung ist, liegt nicht nur an der Streckenführung mit über 17.500 Höhenmetern, sondern auch an der politischen Dimension der Strecke. Schließlich führt sie über den ehemaligen „Todesstreifen“. Den Versuch, diesen zu überwinden und in die Freiheit zu flüchten, bezahlten fast 900 Menschen bis 1989 mit dem Tod. Der Kolonnenweg verlief etwa 100 Meter parallel zur ehemaligen deutsch-deutschen Grenze und diente den NVA-Soldaten als Versorgungsstraße. Charakteristisch sind die Betonlochplatten mit Löchern von etwa sieben Zentimetern Breite und knapp 20 Zentimetern Länge, jeweils vier nebeneinander und sieben in der Reihe. Kurz: Die Lochplatten sind permanente Schlaglöcher … nur breite Reifen, geringer Luftdruck, reichlich Federweg und ausreichendes Tempo machen das Fahren erträglich, zumal die Platten nach 20 Jahren nicht selten schief stehen und aus den Löchern Büsche wuchern.

Die Schlagloch-Navigation

Seit drei Stunden regnet es. Ein stetiges Pochen unter dem Vorderrad zeigt mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin. In den Lochplatten des Kolonnenwegs der alten DDR-Grenze versinken selbst die breiten 2,25“ „Racing Ralph“-Reifen meines 29-Zöllers. Dieses konstante Rütteln funktioniert wie ein perfektes Navigationssystem. So lange es rattert, bin ich richtig. Auf Sicht lässt sich kaum fahren. Nicht nur weil wolkenbruchartiger Regen die Augen foltert, sondern auch weil schulterhohes Gestrüpp aus Schafgarbe, Brennnesseln und kleinen Bäumen den Kolonnenweg völlig überwuchert hat. 20 Jahre lang hat hier niemand die Natur in ihre Grenzen gewiesen. Franky prescht voraus, seine Packtaschen am Heck schütteln den Regen vom Buschwerk ab. Das macht mir das Fahren einfacher. Er war der Streckenscout hier im Wendland und seine Ortskenntnis beschert den GST-Fahrern reichlich Unterholz jenseits der Radwege und Landstraßen – Bike-Abenteuer auch im Flachland: Mitunter versperren ihnen auch Elektrozäune und Kuhherden den Weg.

Zittern im Wendland

Wir haben unser Bildarchiv aktualisiert. Dabei wurden ältere Bilder entfernt – darunter das hier verlinkte. Melden Sie sich einfach für passende Motive zum Artikel: 0551–9003377‑0.
Wir bremsen zum ungezählten Mal ab. Ein Elektrozaun zischt im Regen. Franky krabbelt unter dem Zaun hindurch. Als ich mein Rad über den Zaun heben will, rutscht es ab und begräbt die blanken elektrischen Drähte unter sich. Als ich es aufheben möchte, zischt es kurz, ich werde durchgeschüttelt und lasse das Rad instinktiv wieder fallen. Nasser Gunnar, nasses Rad und starker Elektrozaun verstehen sich nicht gut. Ganz gleich, ob ich das Rad am Reifen, am Sattel oder am Rahmen greife, alles ist nass und leitet vorzüglich. Zuckend tanze ich auf einer Wiese mitten im Wendland und versuche, mein Haibike aus den Elektrofängen zu befreien. Hebe ich das Rad an, rückt der unter Spannung stehende zischende Draht nach, gern verhakt er sich in den Kettenblättern… Es braucht fast eine Viertelstunde, bis ich das Rad mittels kleiner Tritte und Lupfwürfe wieder befreit habe. Dagegen sind die Pferdeweiden, die wenige Kilometer später zu durchqueren sind, „Kindergeburtstag“.

Vom Todesstreifen zur Öko-Oase

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Exakt 1.378 Kilometer misst der Streifen, der die beiden deutschen Länder bis 1990 trennte. Die einstige Westgrenze des Ostblocks, eine verminte und mit Wachtürmen gesicherte Schneise in der Landschaft, ist längst zu einem verwilderten Grünstreifen geworden – befahrbar nur über den holperigen Kolonnenweg der DDR-Grenzer und überwucherte Naturpfade. Das „Grüne Band“ hat eine Ausnahmestellung als eine Kette besonders wertvoller Biotope, laut BUND befinden sich hier 109 verschiedene Biotop-Typen, von denen die Hälfte auf der Roten Liste Deutschlands steht. Über ein Viertel des Grünen Bandes ist als Naturschutzgebiete geschützt. Im Juni 2003 fand am Grünen Band der „Tag der Artenvielfalt“ statt. 500 Experten kartierten in 24 Stunden mehr als 5.200 verschiedene Tier- und Pflanzenarten im Grünen Band, darunter auch Arten, die bereits als ausgestorben galten. Sorgen, dass die Grenzsteintrophy schwerwiegend in diese Biotope eingreift, sind unbegründet. Zum einen stellt das Befahren der Betonplatten nach Ansicht des NABU keine Störung dar. Zum zweiten wurden für 2010 alle bekannten kritischen Passagen abseits des Kolonnenwegs aus dem Track entfernt.

Wellenreiten an der Werra

„Überbrückungsetappen“ haben ihre Tücken, das kennt man von der Tour de France, wenn vermeintlich uninteressante Passagen plötzlich Dramatik bekommen. Nach dem Harz und vor der Rhön erwartete ich eine ruhige Fahrt, schließlich verläuft heute die Bundesländergrenze hier für einige Kilometer entlang der Werra. Ich hatte mich im gemütlichen Hofcafé des Ritterguts Besenhausen gestärkt, war entspannt zur Burg Hanstein hinauf gekurbelt und bin dann die fast 250 Höhenmeter auf kaum einem Kilometer vom Werrablick nach Lindewerra über die Lochplatten heruntergezischt. Im Werratal sorgte ein gepflegter Rückenwind für hohes Tempo, bis plötzlich der Weg im rechten Winkel von der Landstraße nach links den Hang hinaufführte. Jetzt rast mein Puls bei 180 und ich bekomme die Kurbel kaum herumgedreht. Immer steiler wird der Plattenweg. Aber er windet sich nicht. Deutsche Grenzen-Gründlichkeit kennt keine Serpentinen. Einziges Zugeständnis an die Topographie: Die Lochplatten liegen in besonders steilen Passagen quer, sodass die Löcher als Leitersprossen dienen. Oben angekommen fahre ich ins Grenzmuseum Schifflersgrund, der ersten Gedenkstätte ihrer Art im wiedervereinten Deutschland. Perfider lässt sich die Architektur des Todes nicht erfahren, binnen eines Kilometers wandelt sich das wilde naturbelassene Grüne Band zur „restaurierten“ Gedenkstätte in Form eines konservierten „antifaschistischen Schutzwalls“.

Ich fahre völlig vogelfrei durch schönste Natur, nur mein Puls gibt den Takt vor, kein gestern, kein morgen und eine endlose Aneinanderreihung von „jetzt und hier“, doch der Boden meines Tracks ist blutig. Die Grenze hat nicht nur Spuren in der Natur hinterlassen, sondern auch in Millionen Köpfen. Mir ist schlecht, dieser Kontrast geht aufs Gemüt. Ich trete doppelt fest in die Pedale. Und dazu habe ich auf den nächsten 70 Kilometern bis Creuzburg ausreichend Gelegenheit. Schier endlos reihen sich kurze giftige Anstiege aneinander. Nach dem zwanzigsten „Geher“ höre ich auf zu zählen. Manche sind so steil, dass ich trotz satter Untersetzung schieben muss. Eine freiwillige Schinderei …

Rennsteigritt

Siebenter Tag der GST, seit Kilometer 588, kurz hinter dem Harz, fahre ich alleine. Unterwegs habe ich nur einen (!) Biker auf dem Kolonnenweg getroffen. Heute Morgen bin ich um 4:30 Uhr los. Meine IQ-Tec-Akkuleuchte flutet den Kolonnenweg mit Licht. Hier und da leuchten Augenpaare in der Dunkelheit, sie zeigen sich vom seltsamen Besuch kaum beeindruckt. Den Wald teile mich mir mit Dammwild, Füchsen, Schnecken und einigen Vögeln, selbst die Sonne gesellt sich nur zögerlich zu uns, sie lugt über die Hügel des Coburger Landes und bahnt sich den Weg durch den Frühnebel. Meinen Frühstückskaffee trinke ich in einer Bäckerei im neuen Industriegebiet von Streufdorf, das sich direkt auf der ehemaligen Grenze befindet. Die ersten 25 Kilometer des Tages sind um 6:15 Uhr bereits geschafft. Am frühen Mittag bin ich in Sonneberg und sehe zu, den Rennsteig zu erreichen. Bis Tettau sind schon einige Improvisationen nötig. Der „ergooglete“ Track zeigt Schwächen: Schiebepassagen durchs Unterholz entlang einer Geraden über Berge und hinein in Täler zehren an der Motivation.

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Oberhalb von Tettau treffen Grenze und Rennsteig erstmals zusammen, ich entschließe mich, dem Rennsteig für 16 Kilometer bis Brennersgrün zu folgen und fahre dort wieder auf den Kolonnenweg. In fantastischen Wellen geht es rasant abwärts zu den östlichen Ausläufern des Thüringer Waldes, die Anstiege seien hier einmal verschwiegen. Abends treffe ich nach 193 Kilometern und über 3.500 Höhenmetern um kurz nach Neun in Blankenstein ein. Die Pension „Rennsteig“ bietet ein vorzügliches Rostbrätel und ein kuscheliges Bett.

Zielstich

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Der Thüringer Wald liegt hinter mir, entlang der Saale geht es entspannt Richtung Ziel. Auf halber Strecke komme ich durch den ehemals geteilten Ort Mödlareuth, weltbekannt als „Little Berlin“. Heute ist es ein „Museumsdorf“ irgendwo zwischen Geschichtsbewältigung, Ostalgie-Sammelwut und Fotokitsch.

Es gibt bessere Orte, um der Trennung der Deutschen nachzuspüren, es gibt aber kaum Orte, die auf so wenig Raum so viele (un)passende Fotomotive bieten. Ich zische ein Cola im Restaurant, drücke drei Mal auf den Auslöser meiner Kamera und dann wieder zackig in die Pedale, denn ich möchte schnell im Ziel sein … noch könnte ich es unter sieben Tagen schaffen. So rauscht die Landschaft an mir vorbei und bei Mittelhammer verschwinde ich einer feuchten Senke zwischen den seichten Hügeln. Das Wasser der südlichen Regnitz zieht Millionen Mücken an. Seit die Grenzer hier nicht mehr permanent patrouillieren, haben die Insekten mächtig Durst und bitten mich am Schild „Staatsgrenze“ zum Aderlass.

Hintergrund: Grenzsteintrophy 2010

Die Grenzsteintrophy 2010 startet am 17. Juni, dem ehemaligen Tag der Deutschen Einheit (der dem DDR-Volksaufstand von 1953 gedachte). Die Fahrt verläuft 2010 in die andere Richtung: Start ist das ehemalige Dreiländereck im Vogtland, Ziel die Ostseeküste auf dem Priwall bei Travemünde. Aktuelle Infos finden sich unter www.grenzsteintrophy.de.

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