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Mobilitätswende in der Praxis – Stimmen aus der Fahrradbranche
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Montag, 6. September 2021

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Die Mobilitätswende muss auf die Straße kommen. Dafür braucht es in der Praxis Änderungen, die speziell den Radverkehr fördern. Was geändert werden muss und wo der Schuh in der Realität am meisten drückt, dazu äußern sich Vertreter:innen aus der Fahrradbranche gegenüber dem pressedienst-fahrrad.

(pd‑f/tg) Über mangelnde Aufmerksamkeit für das Thema Fahrrad kann man sich aktuell nicht beschweren. Der Vorschlag, den Kauf von Cargo-Bikes mit 1.000 Euro zu fördern, schlug medial und in den sozialen Netzwerken hohe Wellen. Für Markus Krill, Geschäftsführer beim Anhängerspezialisten Croozer, ist eine solche Art der Förderung unverzichtbar: „Eine gesunde, umweltfreundliche und flexible Familienmobilität ist einer der wichtigsten Ansätze für die Mobilitätswende. Eine Umstiegsprämie für die Lastenrad- und Fahrradanhängernutzung von Privatpersonen ist eine Rahmenbedingung, um den Menschen den Umstieg aufs Rad attraktiv zu machen.“ Fahrradanhänger, egal ob für Lasten- oder Kindertransport, sollten seiner Ansicht nach bei Förderungen genauso konsequent mitgedacht werden, da sie einen wesentlichen Beitrag für die Verkehrswende leisten. Allerdings weiß Krill auch: Allein eine Förderprämie bringt noch keine Mobilitätswende. Genauso wichtig ist es, die passenden Rahmenbedingungen für mehr Radverkehr zu schaffen. Sein Vorschlag: ein Ausbau der Radinfrastruktur und eine Anpassung der Verkehrspolitik. „Darunter fällt die rechtliche Gleichstellung der aktiven Mobilität mit anderen Verkehrsträgern und damit einhergehend eine Abkehr von der dominierenden Stellung des Autos. Für uns ist es aber definitiv kein Gegeneinander, sondern die Verkehrswende gelingt nur im Miteinander – wenn alle Beteiligten sich um ein Umdenken in Richtung ganzheitliche, nachhaltige Mobilität bemühen“, so Krill.

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Bund stellt Fördergelder, aber Maßnahmen fehlen

Um Verbesserungen anzustoßen, wurde von der Politik in diesem Jahr der Nationale Radverkehrsplan 3.0 vorgestellt. Dieser soll helfen, den Ausbau der Radinfrastruktur in Deutschland bis 2030 weiter voranzubringen. Die Bundesregierung stellt dafür Fördermittel in Höhe von 1,46 Milliarden Euro zur Verfügung. Dies bekräftigte Bundeskanzlerin Angela Merkel nochmals in einem Grußwort anlässlich der Fahrrad-Leitmesse Eurobike vergangene Woche. Geld ist also da, das sehen auch die Vertreter:innen aus der Fahrradbranche. Woran hakt es dann in der Praxis? Für Sarah Baukmann vom Zubehörspezialisten SKS Germany, einem deutschen Fahrradunternehmen mit mittlerweile hundertjähriger Tradition, ist die Situation klar: „Die bisherigen Anstrengungen beim Ausbau der Radinfrastruktur reichen nicht. Um mehr Menschen zum dauerhaften Pendeln auf dem Rad zu bewegen, braucht es deutlich schnellere Fortschritte. Damit meine ich nicht nur die Bereitstellung von Geld, sondern es müssen auf allen Ebenen auch genügend Planungs- und Umsetzungskapazitäten bereitstehen.“ Nicht nur in der Stadt bedarf es dabei größerer Anstrengung, sondern insbesondere auf dem Land, wie Stefan Stiener betont. Er sitzt mit seinem Fahrradunternehmen Velotraum in Weil der Stadt, einer Kleinstadt in der Nähe von Stuttgart. Sein Wunsch: „Wir brauchen eine durchgängige Fahrradinfrastruktur nicht nur in den Kernbereichen der Großstädte, sondern auch im sogenannten ländlichen Raum und der Agglomeration.“ Das solle allerdings nicht erst in zehn bis 15 Jahren erfolgen, sondern möglichst bald. „Wir benötigen deshalb eine radikale Verschlankung und Entrümpelung des Planungsverfahrens, denn im Moment brauchen wir für drei Kilometer Radweg länger als in China für 2.000 Kilometer Schnellbahntrasse“, sagt er mit einer bewussten Überspitzung.

Radwegebau noch keine Selbstverständlichkeit

In eine ähnliche Kerbe schlägt Alexander Kraft, Pressesprecher beim Liegeradhersteller HP Velotechnik: „Es ist ja wunderbar, dass mittlerweile größere Summen im Bundeshaushalt fürs Fahrrad bereitstehen. Da stehen sie dann aber und vor Ort passiert meistens wenig bis kaum etwas.“ Als Beispiel nennt er den angedachten Radschnellweg zwischen Frankfurt und Darmstadt, bei dem nach zehn Jahren Anlaufzeit laut Kraft gerade einmal ein Kilometer asphaltiert ist. „Wir müssen aus dem ewigen Ankündigungsmodus inklusive politischer Selbstbeweihräucherung heraus und richtig ins Machen kommen“, so seine Forderung. Dabei seien gerade die Radschnellwege ein gutes Beispiel, wie Radverkehr gefördert werden kann, findet Karsten Geisler, Marketingleiter beim Kinderfahrzeugspezialisten Puky. „Radwege müssen durchgängig gestaltet werden. Das ständige ‚Stop and Go‘ ist ein Spaßkiller“, so seine persönliche Erfahrung. Speziell für Fahrten mit Kindern erachtet er es als wichtig, dass Fahrradwege baulich vom motorisierten Verkehr getrennt werden. „Das gibt tatsächliche und gefühlte Sicherheit für Erwachsene und Kinder.“

Kommunale Stellen fehlen

Wie schwer die Umsetzung in der Praxis aktuell ist, weiß Andreas Hombach nur zu gut. Er arbeitet für das Unternehmen WSM, einen Anbieter von Fahrradparksystemen, und ist in engem Austausch mit den kommunalen Vertreter:innen. Seine Erfahrung: Vielerorts fehlen Verkehrsplaner:innen, welche sich mit dem Thema Radverkehr auseinandersetzen. Durch die Corona-Pandemie habe sich die Lage sogar noch verschärft. Für Hombach ist eine bessere Fahrradinfrastruktur jedoch unerlässlich – auch weil die Fahrradhersteller in den letzten Jahren durch technische Entwicklung viel für eine erhöhte Sicherheit der Radfahrenden getan haben. „Aber was nützt das beste Fahrrad, wenn man aus Sorge um die Gesundheit im Straßenverkehr nicht fährt“, fragt Hombach. Für ihn zählen direkte Radwegverbindungen, am besten getrennt vom Autoverkehr und Fußgänger:innen, zur Grundausstattung. „Wo eine getrennte Führung nicht möglich ist, müssen Fahrbahnen oder zumindest Querungsbereiche auffällig gestaltet werden“, äußert Hombach einen Wunsch und ergänzt: „Neben dem rollenden Verkehr darf jedoch der parkende Verkehr nicht vergessen werden. Hochwertige, leicht erreichbare Fahrradabstellanlagen mit hohem Diebstahl‑, Vandalismus- und Witterungsschutz sollten Standard werden.“

Städte müssen mehr tun

Wie die Corona-Krise sinnvolle Radverkehrslösungen antreiben kann, zeigte sich beispielsweise in Berlin. Die Pop-up-Radwege wurden deutschlandweit gefeiert. Für Mareen Frindt vom ortsansässigen Zubehöranbieter Fahrer Berlin jedoch erst ein Anfang. „Sicherheit auf der Straße und Inklusivität des Radverkehrs müssen flächendeckend realisiert werden und nicht nur als Insellösungen hier und da aufploppen. Weg von der autogerechten hin zur fahrradgerechten Umgebung als oberste Maxime im Stadtverkehr“, lautet ihre Forderung. Dies könne allerdings nur gelingen, wenn Städte, Kommunen, Bund und Länder konsequent und nachhaltig in den Radverkehr investieren. „Nicht das Auto, sondern das Fahrrad sollte im Fokus einer jeden Stadtplanung stehen“, so Frindt. Dabei ist es für Stadtverwaltungen zudem wichtig, dass der Radverkehr auch stetig weitergedacht wird. André Joffroy, Geschäftsführer des Unternehmens Trail.camp Distribution, wohnt in Erlangen. Die fränkische Universitätsstadt war jahrzehntelang ein Vorbild für Fahrradinfrastruktur. Mittlerweile sind nicht nur Radverkehrsstädte wie Kopenhagen oder Amsterdam vorbeigezogen, sondern auch London, Paris und Barcelona. „Seien wir ehrlich: Wir hinken hinterher. Wie bei der Digitalisierung und der Energiewende hat man den Ruf einfach nicht gehört“, so Joffroy. Sein Wunsch: ein klares Bekenntnis zu lebenswerten Innenstädten, Radwegen und mehr öffentlichem Nah- und Fernverkehr – auch auf dem Land. „Dort ist der Individualverkehr bei momentaner Infrastruktur häufig alternativlos. Das sollte aber nicht so bleiben und erfordert ein Umdenken“, fordert Joffroy.

Detailaufnahme des Kennzeichens am hinteren Gepäckträger eines S-Pedelecs.Bessere Bedingungen für S‑Pedelecs schaffen

S‑Pedelecs gelten neben Cargo-Bikes als ein wichtiges Fahrzeug für die Mobilitätswende. Anders als Pedelecs unterstützen die Kleinkrafträder nicht bis 25 km/h, sondern bis 45 km/h. Dadurch lassen sich auch längere Strecken schnell per Zweirad erledigen. In Deutschland dürfen die Räder allerdings nicht auf Radwegen fahren, was ihren Marktanteil gerade einmal bei einem Prozent hält. In der Schweiz ist die Situation eine andere: Dort ist die Radwegenutzung erlaubt, was einen Marktanteil von rund 20 Prozent zur Folge hat. „Ich würde mir wünschen, dass S‑Pedelecs in Deutschland bald vermehrt zum alltäglichen Straßenbild gehören. Dafür müsste dann aber auch die notwendige Infrastruktur geschaffen werden“, sagt Anja Knaus vom E‑Bike-Hersteller Flyer. Doch bis es soweit ist, kann es noch dauern. Im Nationalen Radverkehrsplan 3.0 steht zum Thema S-Pedelec: „Der Bund überprüft die Radwegebenutzungspflicht für Lastenräder und das Radwegebenutzungsrecht außerorts für S‑Pedelecs.“ Konkrete Maßnahmen werden noch nicht benannt.


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