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Nachhaltigkeit in der Fahrradbranche: Die Zeit ist reif
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Donnerstag, 2. Juni 2022

Nachhaltigkeit ist ein bestimmendes Thema der aktuellen Zeit. Das Fahrrad gilt, neben dem Zufußgehen, als die nachhaltigste Form der Fortbewegung. Auch in der Radproduktion wird ein immer stärkerer Fokus auf einen bewussten Umgang mit Ressourcen gelegt. Der pressedienst-fahrrad hat sich in der Branche umgeschaut und Beispiele für eine nachhaltige Unternehmenskultur gesammelt. Dabei wird klar: Nachhaltiges Handeln ist mehr als eine Umstellung auf grünere Produktion und kann in manchen Fällen nicht sofort erfolgen.

Ob der 28. Oktober 2021 für die Fahrradindustrie eine Zeitenwende eingeläutet hat, ist noch schwer zu sagen. Der Tag steht jedoch für einen wichtigen Schritt hin zu einer Veränderung des wirtschaftlichen Handelns. 22 Entscheider:innen aus der Fahrradbranche unterzeichneten die sogenannte „Bike Charta“, einen Aktionsplan für Ressourcenschonung, Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Die Charta umfasst 18 Themenbereiche wie Produktion, Standort, soziale Relevanz und strategisches CSR-Management (Mehr zur Charta). Ziel ist es, Unternehmen einen Leitfaden für nachhaltigeres Wirtschaften an die Hand zu geben und das Image des Fahrrades in der Öffentlichkeit sowie der Politik als nachhaltiges Verkehrsmittel zu stärken. Mittlerweile haben vier weitere Unternehmen unterzeichnet.

Recycling-Kreisläufe schaffen

Gastgeber des Treffens war der Reifenhersteller Schwalbe. In dem Unternehmen arbeitet man bereits seit Jahrzehnten an kreislauffähigen Produkten. Doch die Verantwortung des Unternehmens geht über die Produktion hinaus. So achtet man auch auf den Ausbau des sozialen Engagements durch regionale Partnerschaften im Sport und auf Projekte im Rollstuhlbereich. Ein Team mit vier Mitarbeiter:innen ist ausschließlich damit beschäftigt, das Thema Nachhaltigkeit stärker voranzubringen und Abläufe zu optimieren. So wird ein Schlauchrecyclingprogramm bereits umgesetzt, ein Programm zum Recycling von Fahrradreifen ist im Pilotprojektstatus. Außerdem setzt das Unternehmen auf die Nutzung von fair gehandelten Kautschuk ein und hat eine Technologie entwickelt, mit denen das Laufflächengummi aus nachwachsenden und recycelten Rohstoffen hergestellt wird. „Der Stellenwert für nachhaltige Projekte ist bei uns enorm hoch“, fasst Steffen Jüngst, PR-Sprecher von Schwalbe zusammen. (Mehr Infos)

Ein Mann sitzt auf einer Wiese neben einem Fahrradanhänger und fotografiert mit einer bunten Kamera ein kleines Kind.Potenziale besser ausnützen

Beim Kölner Anhängerhersteller Croozer ist seit Anfang 2022 Jonas Wehowsky erster Sustainability Manager des Unternehmens und beschäftigt sich mit allen Aufgaben rund um Nachhaltigkeit und soziales Engagement. Für viele Unternehmen ist das selbst im Jahr 2022 noch keine Selbstverständlichkeit. Für Croozer als Unterzeichner der Bike Charta aber ein wichtiger Schritt. „Wir sind der Meinung, dass man sich als Akteur der Mobilitätswende kritisch mit den Fragen der Ressourcenverfügbarkeit und auch sozialen Punkten auseinandersetzen sollte“, so Wehowsky. Maßnahmen zur Einhaltung von nachhaltigen Zielen sind in Planung bzw. Umsetzung. So wurde ein erster Nachhaltigkeitsbericht veröffentlicht und ein eigener Unternehmenswald gepflanzt. Durch die Verwendung von recycelten oder umweltfreundlichen Materialien sollen in Zukunft mehr Ressourcen und Energie eingespart werden. „Wir beschäftigen uns aktuell entlang der gesamten Wertschöpfungskette mit dem Thema und suchen überall nach Potenzialen zur Energieeinsparung“, verrät Wehowsky. (Mehr Infos)

Produktion in Deutschland hoch im Kurs

Durch eine Produktion in Deutschland könne hier bereits viel erreicht werden, findet Peter Wöstmann, Pressesprecher von Taschenhersteller Ortlieb. Soziale Verantwortung gegenüber der Region und den Mitarbeiter:innen ist ein wichtiger Teil der Unternehmensphilosophie. „Die Nachhaltigkeitsfrage wird bei allen Entscheidungen, die wir im Unternehmen jeden Tag treffen, berücksichtigt“, sagt Pressesprecher Peter Wöstmann, gibt aber auch zu: „Wir sind dabei zwar noch nicht überall so weit, wie wir sein wollen, dessen sind wir uns bewusst, aber wir werden jeden Tag besser.“ So baue man an einer Fotovoltaikanlage zur Stromversorgung, eine Einsparung bei der Heizenergie gibt es durch ein Wärmerückgewinnungskonzept aus den Druckluftkompressoren. Zudem ist eine Wärmepumpe zur Energiegewinnung geplant. Bei den Produkten achte man auf lange Produktzyklen und Reparierbarkeit – das schone ebenfalls Ressourcen. (Mehr Infos)

Fuhrpark nachhaltig umstellen

Sicherheitsspezialist Abus setzt auf Einsparungen bei Trinkwasser und Energie. Aber auch die Umstellung der Beleuchtung oder die Einsparung von Verpackungsmaterial hilft, die Produktion umweltfreundlicher zu gestalten. Durch Fertigung in Deutschland, Engagement in der Heimatregion und Gesundheitsförderungsprogramme für die Mitarbeiter:innen ist das Unternehmen auch sozial aktiv (Mehr Infos). Der Metallbauer WSM konzentriert sich wiederum in einem ersten Schritt auf eine Minimierung der Trinkwassernutzung sowie den Bau von Zisternen für das Aufsammeln von Regenwasser. Zudem werde der Firmenfuhrpark elektrifiziert und mehr für radfahrende Mitarbeiter:innen getan. „Dies sind konkrete Punkte, die wir in unserer Erklärung zur Bike Charta abgegeben haben“, erklärt Andreas Hombach, Leiter des Key Account Managements, der persönlich seinen Dienstwagen abgegeben hat und seit Jahresbeginn Dienstfahrten ausschließlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln und Fahrrad erledigt (Mehr Infos).

Lieferanten mit ins Boot holen

Als einer von wenigen Fahrradherstellern hat der Mühltaler E‑Bike-Produzent Riese & Müller die Bike Charta unterzeichnet. Das Unternehmen arbeitet aktuell daran, bis 2025 zum nachhaltigsten Unternehmen der E‑Bike-Branche zu werden. Dafür wurde eine Verantwortungsstrategie entwickelt und in diesem Jahr der zweite Verantwortungsbericht veröffentlicht. Dieser trägt das Motto „Transparenz“ und befasst sich besonders mit der aktuellen Situation in der Lieferkette. „Wir wollen verstehen, wo die Fahrradbranche steht, wo es Verbesserungsmöglichkeiten und Handlungsbedarf gibt“, schreibt Geschäftsführerin Sandra Wolf dazu im Unternehmensreport. Ein wichtiges Feld für Veränderungen ist dabei der Blick auf die komplette Lieferkette. Riese & Müller setzt bei seinen Zulieferern zu Großteilen auf Familienunternehmen in Europa, aber auch auf einige asiatische Partner. Bislang haben sich 63 Zulieferer auf einer Cloud-Plattform angemeldet und beispielsweise Zertifikate und Selbstauskünfte hinterlegt, die überprüft werden und auch die Vorlieferanten mitberücksichtigen, um nachhaltiges und ressourcenschonendes Wirtschaften darlegen zu können. Ziel ist es, die gesamte Lieferkette verantwortungsvoll zu analysieren und zu gestalten (Mehr Infos).

Eine Person hält Schnipsel von Kunststoffabfällen vor sich und trägt über der Schulter hängend eine Fahrradtasche.Einer muss den Anfang machen

Vorreiter im Bereich nachhaltiges und soziales Wirtschaften und Vorbild für viele europäische Unternehmen aus der Fahrrad- und Sportbranche ist der Outdoor-Bekleidungsspezialist Vaude. Das Unternehmen aus dem baden-württembergischen Obereisenbach dreht an vielen Stellschrauben, um eine langfristige Nachhaltigkeitsstrategie zu erarbeiten. Dazu zählt beispielsweise auch, den Energieverbrauch gerade bei den Zulieferern einzuschränken. Zwar sei man als mittelständisches Unternehmen eingeschränkt im Umgang mit den großen Zulieferern, aber die Vaude-Verantwortlichen versuchen auch bei größeren Stoffproduzenten nachhaltige Lösungen anzustoßen und so den Energiebedarf zu minimieren. Außerdem wird stärker auf Recycling gesetzt sowie auf langlebige Produkte. „Für eine klimaneutrale Produktherstellung werden wir von der Materialherstellung bis zum fertigen Produkt zunächst die Lieferkettenprozesse auf maximale Ressourcenschonung sowie hohe Material- und Energieeffizienz optimieren und im Anschluss nicht vermeidbare Emissionen kompensieren“, erläutert Hilke Patzwall, Senior Managerin Sustainability bei Vaude, das Vorgehen. Das Unternehmen ist seit 2022 weltweit klimaneutral. Einzelne Schritte und ihre Auswirkungen kann man seit 2013 im CSR-Bericht nachlesen. (Mehr Infos)

Recycling nicht immer möglich

Ein weniger bekanntes Beispiel ist der Accessoire-Hersteller Fahrer Berlin. Das Unternehmen schneiderte anfänglich seine Produkte aus alten Lkw-Planen. Mittlerweile werden z. B. Taschen aus Neopren-Material hergestellt, das wiederum eingekauft werden muss. Denn hier liegt eine der aktuellen Schwierigkeiten: Stabile, langlebige Materialien sind teilweise schwierig zu recyceln. Alternative recyclingfähige Materialien sind bei Qualität und Langlebigkeit nicht auf dem gleichen funktionalen Niveau. Außerdem benötigt Recycling vieler Stoffe einen hohen Energieaufwand. „Hier muss eine differenzierte, transparente und ehrliche Betrachtung erfolgen“, weiß auch Ortlieb-Sprecher Wöstmann. Eine radikale Änderung von lange gewachsenen Produktionsstrukturen ist ebenfalls nicht überall problemlos möglich. Der Luftpumpen- und Radschützer-Produzent SKS Germany ist beispielsweise auf eine Verarbeitung von Kunststoffmaterialien spezialisiert, ein Werkstoff, der viele Ressourcen verbraucht. Man konzentriere sich daher auf eine lange Haltbarkeit sowie Reparierbarkeit der Produkte. Ebenfalls werden, wo möglich, recyclingfähige, thermoplastische Kunststoffe verwendet und Wert auf soziales Engagement gelegt.

Freundliche Firmenstrategie

Mit vielen Kunststoffmaterialien arbeitet auch der Lichtspezialist Busch & Müller. Das Unternehmen aus Meinerzhagen hat einen Scheinwerfer entwickelt, der aus einem biologisch abbaubaren Kunststoffgehäuse besteht. Der Zusatzname „Friendly“ des Scheinwerfers steht dabei stellvertretend für ein umfassendes Firmenkonzept. Firmensitz und Produktion wurden umgestaltet und so Einsparungen bei Energie und Produktionsmaterial erreicht. Außerdem wurde Verpackungsmaterial verbessert und auch mehr für die Familienfreundlichkeit im Unternehmen getan. Einen wichtigen Beitrag können aus Sicht des Unternehmens aber auch die Radfahrenden leisten: Scheinwerfer gelten bei der Entsorgung als Elektroschrott. Deshalb sollten Nutzer:innen darauf achten, die Produkte fachgerecht zu entsorgen, damit wertvolle Materialien wiederverwertet werden (Mehr Infos).

Rohstoffknappheit gut für Recycling

An einem Rohstoffkreislauf arbeitet auch der Ergonomiespezialist Ergon. Mit einer nahezu abfallfreien Produktion und ersten Verwendungen von Recycling-Produkten sieht sich das Unternehmen aus Koblenz auf einem guten Weg. „Als konsequenten nächsten Schritt sehe ich einen geschlossenen Rohstoffkreislauf. Hier gibt es schon Ansätze und Aufgaben für die nächsten Jahre“, sagt Andreas Krause, Leiter Technische Entwicklung. Was er beobachtet: Auch bei den Zulieferern habe sich besonders in den letzten beiden Jahren eine sehr große Akzeptanz und Bereitschaft für das Thema entwickelt. Die aktuelle weltweite Rohstoffknappheit werde diesen Trend in Zukunft aus seiner Sicht sogar noch verstärken: „Gerade weil wir mehr mit recycelten Materialien arbeiten, werden wir die Lieferfähigkeit noch steigern können“, ist sich Krause sicher. Auch Jonas Wehowsky sieht in der aktuellen Situation eine Chance für die globalen Lieferketten: „Das Aussuchen neuer Materialien kann z. B. dazu führen, dass ein ‚neues‘ ressourcenschonenderes Material ein ‚altes‘ knappes Material ersetzt. Darüber hinaus stellen sich viele Unternehmen die Frage, ob eine globalisierte Lieferkette den Resilienz-Ansprüchen eines Unternehmens entspricht oder ob z. B. regionales Sourcing nicht Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit gleichermaßen begünstigt.“

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Kleine Schritte helfen

Die Zeit ist also günstig, damit mehr Firmen sich einem nachhaltigen Wirtschaften verschreiben. Das Fahrrad ist nicht nur ein wichtiges Lösungselement für den Klimaschutz und für lebenswerte Städte, sondern kann auch bei Produktion, Herstellung und Logistik eine Vorreiterrolle für andere Branchen einnehmen – wenn auch die Lieferanten mit ins Boot geholt werden können. Immer mehr Unternehmen zeigen Haltung und arbeiten an nachhaltigen Lösungen; selbst wenn sie auf den ersten Blick wie ein kleiner Schritt wirken, sind sie ein Anfang. Fahrradhersteller Cannondale setzt beispielsweise auf ein komplett recyclebares Verpackungssystem aus FSC-zertifiziertem Karton. Selbst das Klebeband ist biologisch abbaubar. „Auf Schaumstoff, Kunststoffbänder, Plastikbeutel und Kabelbinder wird komplett verzichtet“, erklärt Daniel Häberle, Marketingmanager für Deutschland. Dabei muss man sehen: Viele Prozesse speziell in der Produktion haben sich über die letzten Jahrzehnte verfestigt. Eine Änderung zu mehr nachhaltigem Wirtschaften kann bei den strukturierten Abläufen nicht über Nacht stattfinden, sondern ist ein Prozess über mehrere Jahre – der auch immer wieder mit Rückschlägen verbunden ist. Diese Erfahrungen mussten selbst namhafte Vorreiter sammeln. Aber zumindest ein Anfang ist gemacht.

Thomas Geisler | pressedienst-fahrrad

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