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Ein Mann arbeitet an der Montage eines E-Bike-Rahmens.

Das Fahrrad – Made in Europe
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Montag, 4. Juli 2022

Seit einigen Jahren wird der (Wieder-)Aufbau einer Fahrradfertigung in Europa vorangetrieben. Durch die aktuellen Einschränkungen in der Lieferkette und die Corona-Lage in Asien hat das Thema in den letzten beiden Jahren zusätzlichen Schwung bekommen. Die Fertigung in Europa hat viele Vorteile, ist aber nicht so leicht umsetzbar. Der pressedienst-fahrrad hat bei Fahrradherstellern die Vor- und Nachteile erfragt.

Ein Fahrrad, komplett in Europa gefertigt? Die Idee ist nicht neu, sondern war lange Realität. Die Fahrradproduktion war in Deutschland und Europa lange sehr stark vertreten, wanderte aber sukzessive nach Asien ab. Seit ein paar Jahren stoßen aufmerksame Fahrradfans bei immer mehr Herstellern jedoch auf Hinweise zur europäischen Produktion. Wobei der Begriff hier für Verwirrung sorgen kann und es nicht geklärt ist, ab wann ein Fahrrad wirklich als ein europäisches Produkt zählt. Viele Zulieferteile stammen nämlich auch weiterhin aus Asien, werden in Europa allerdings zum Gesamtprodukt zusammengefügt. Der Hamburger Hersteller Stevens lässt seine Räder beispielsweise fast komplett in Europa montieren, rund 60 Prozent in einem eigenen Werk in Niedersachsen. „Die Montage vor Ort ist nachhaltiger als eine Asien- oder Fremdmontage, da das insgesamt erforderliche Transportvolumen um gut 50 Prozent niedriger ausfällt. Zudem sind die Räder besser endgefertigt und benötigen weniger Verpackungsmaterial als Kompletträder aus dem Container“, erklärt Volker Dohrmann, Leiter Produkt, Strategie und Marketing bei Stevens. Die Montage direkt am Verkaufsmarkt durchzuführen, ist mittlerweile bei vielen Herstellern beliebt. Das US-Unternehmen Cannondale hat seine Europa-Fertigung in den Niederlanden beispielsweise im letzten Jahr weiter ausgebaut. Kinderradhersteller Puky, der seine Kinder-Laufräder komplett, also von der Rahmenproduktion über das Lackieren bis hin zur Montage, in Deutschland fertigen lässt, eröffnet in Polen ein Montagewerk für Teile seiner Kinderräder. „Grundsätzlich versuchen wir, so lokal wie möglich zu produzieren. Grundsätzlich gelingt uns das auch an unserem Standort in Wülfrath bzw. in Deutschland. Die zunehmend komplexen Fahrzeuge und die veränderte Weltmarktlage erfordern auch von uns andere Strategien. Dazu hat uns die Pandemie gezeigt, dass wir uns in vielen Bereichen breiter aufstellen müssen“, sagt Marketingleiter Karsten Geisler dazu. Man wolle sich so mit einfachen Alternativen in unberechenbaren Zeiten absichern und unabhängiger vom asiatischen Markt machen. Auch andere Hersteller wie Flyer, Riese & Müller, Winora oder Ghost lassen Räder in Deutschland bzw. Europa assemblieren und endmontieren. Doch „Made in Europe“ bedeutet mittlerweile mehr – nämlich einen Großteil der Wertschöpfung für das Produkt Fahrrad in Europa zu erwirtschaften.

Wertschöpfung in Europa stärken

Beim baden-württembergischen Hersteller Tout Terrain bedeutet dies beispielsweise: Entwicklung, Konstruktion, Prototypenbau, Pulverbeschichtung und die komplette Vor- und Endmontage der Räder werden in Europa durchgeführt. Beim Liegeradhersteller HP Velotechnik verhält es sich ähnlich: Viele Räder sind individuell angepasst und werden deshalb am Firmensitz in Kriftel zusammengebaut. Dort findet zusätzlich der Bau von Prototypen statt, die Pulverbeschichtung der Räder erfolgt in Deutschland und den Niederlanden. „Die Rahmen unserer Räder beziehen wir jedoch weiterhin aus Asien“, erklärt Pressesprecher Alexander Kraft. Die asiatischen Hersteller verfügten über eine hohe Fertigungstiefe, hervorragende Qualität und große Produktionskapazitäten. Doch es gibt auch Manufakturen, die ihre Rahmenfertigung in Deutschland durchführen, wie etwa den niedersächsischen MTB-Spezialisten Nicolai, der komplett in Elze/Mehle produziert – was gerade beim Rahmenmaterial Aluminium eine echte Ausnahme ist. Doch auch in diesem Bereich kündigen sich Veränderungen an.

Europäische Rahmenfertigung nimmt Fahrt auf

Speziell der Produktionsstandort Portugal hat sich in den letzten Jahren als Alternative zur Rahmenproduktion in Asien etabliert. Seit 2015 wird auf der iberischen Halbinsel der Aufbau einer europäischen Rahmenfertigung vorangetrieben. Mit EU-Subventionen wurden Fertigungsanlagen gebaut, in denen 2020 bereits 2,7 Millionen Fahrradrahmen produziert wurden, Tendenz steigend. Für 2022 wird mit einem weiteren Anstieg um rund 50 Prozent gerechnet. Auch eine Fertigung von Carbonrahmen läuft mittlerweile an. Durch ein eigenes Forschungs- und Entwicklungszentrum sowie Kooperationen mit Universitäten will Portugal seine Vorreiterrolle in Europa weiter ausbauen. Als Vorbild dienen hier übrigens die Fahrradhersteller aus Taiwan, die bereits in den 1990er-Jahren begonnen haben, gemeinsame Entwicklungseinrichtungen zu bauen. Hauptabnehmer der portugiesischen Rahmen sind Fahrradhersteller aus Spanien, Frankreich und Deutschland. E‑Bike-Hersteller Riese & Müller lässt beispielsweise einen Teil seiner Rahmen seit 2018 in Portugal fertigen. Auch in Bulgarien, Ungarn oder Polen eröffneten in den letzten Monaten Werke für einen Ausbau der europäischen Fahrradproduktion – in manchen Fällen auch mit der Unterstützung asiatischer Partner, wie Volker Dohrmann feststellt: „Einige visionäre Lieferanten aus Asien lassen sich seit geraumer Zeit in Europa nieder oder streben Joint Ventures an. Dort treffen dann die erfahrenen Fernost-Anbieter auf den lokalen Markt, erhalten eine Förderung und positive Aufnahme durch die neuen Wirtschaftsregionen. Das scheint uns für die rasche Etablierung einer neuen, starken und umfassenden europäischen Fahrradproduktion als sehr sinnvoll.“

„Made in Europe“ bringt Vorteile

Die hiesige Produktion hat für die Hersteller viele Vorteile – nicht nur in Bezug auf die Logistik. Natürlich resultieren kürzere Wege in erster Linie in geringeren Transportkosten. Aber auch in Sachen Nachhaltigkeit und Emissionseinsparung ist eine Produktion in Europa interessant. Zudem können Hersteller bei der Nachlieferung flexibler und schneller reagieren. Die europäische Fertigung wird zusätzlich dadurch gestärkt, dass die Löhne in einigen asiatischen Ländern seit Jahren steigen. Außerdem achten die Verbraucher:innen verstärkt auf faire Arbeitsbedingungen und Nachhaltigkeit bei der Produktion – gerade für die Fahrradbranche wichtige Punkte in der Lieferkette. Durch die Corona-Pandemie und die dadurch verursachten Lieferprobleme wurde die Diskussion noch verschärft. „Eine Produktion in Europa ist für uns aus unterschiedlichen Aspekten enorm wichtig“, fasst Patrick Tepaß, Produktmanager beim Fahrradhersteller Tout Terrain, deshalb die aktuelle Situation zusammen. Stefan Stiener, Geschäftsführer beim Hersteller Velotraum, ergänzt: „Die Diskussion einer Fahrradproduktion in Europa ist, mit Augenmaß betrieben, ebenso angesagt wie notwendig.“

Prognosen sind schwierig

Doch eins ist klar: Die europäische Produktion kann in den nächsten Jahren den heimischen Markt noch nicht vollständig bedienen. Prognosen gehen davon aus, dass sich bis 2030 die Radverkäufe EU-weit zwischen 25 und 30 Millionen Fahrrädern einpendeln – und zwar jährlich. Ob eine europäische Produktion dieses Volumen langfristig erreichen kann? „Die weitere Entwicklung hängt von vielen Faktoren ab, daher ist eine Prognose zum jetzigen Zeitpunkt schwierig. Was die Pandemie aber gezeigt hat: Bestehende Prozesse dürfen immer wieder überprüft und angepasst werden“, so Christoph Mannel, Geschäftsführer der Winora Group.

Abhängigkeit von Asien bleibt

Hinzu kommt, dass die Abhängigkeit von asiatischen Partnern weiterhin bestehen bleibt. Aluminium, das bei den meisten Fahrradrahmen als Werkstoff zum Einsatz kommt, wird in großen Mengen fast ausschließlich in China hergestellt. Außerdem produzieren viele Teilelieferanten ihre Produkte in Asien. Shimano, Marktführer bei Antriebskomponenten und Bremsen, betreibt zwar Fertigungsanlagen in Europa, hat seine Hauptwerke aber in Japan, Malaysia und Singapur. Eine Verlegung der Produktion nach Europa wäre ein komplexer Vorgang, der Jahre dauern würde. „Ob jemals wieder 100 Prozent der Komponenten in Europa gefertigt werden können, halten wir eher für unwahrscheinlich“, so Tepaß. Gerade Kleinteile, die weniger von den steigenden Transportkosten betroffen sind, werden vermutlich auch weiterhin in Asien gefertigt – u. a. weil in Europa die Facharbeiter:innen auf technischen Gebieten und auch das Wissen fehlen. „Manche Spezialteile können europäische Zulieferer nicht produzieren – oder nur zu utopischen Preisen“, berichtet Alexander Kraft. Zudem steht der Containertransport vieler Kleinteile in großen Transporteinheiten oft in der reinen Klimabilanz nicht schlechter da als die Produktion am Zielmarkt, wenn dazu Rohstoffe und Produktionsmittel aus vielen weit entfernten Quellen zusammengeführt werden müssen.

Monopole aufbrechen

Europäische Teilehersteller als Alternative gibt es zwar am Markt, doch diese sind meist kleinere Unternehmen, die im hochpreisigen Segment arbeiten und eine hohe Nachfrage kaum befriedigen können. Dennoch sind gerade diese Zulieferer aktuell bei den Fahrradherstellern sehr gefragt, wie Stefan Stiener bestätigt. „Wir sind bei unseren Zulieferern jetzt schon sehr europäisch aufgestellt. Ein wichtiger Schritt, um die ungute Abhängigkeit von einem Lieferanten bzw. Monopolisten zu verhindern. Die Metamorphose vom Partner zum Bittsteller dürfen wir ja im Moment noch zur Genüge auskosten. Das aufzubrechen, wo immer es geht, sehen wir als wichtige Zukunftsaufgabe.“

pressedienst-fahrrad | Thomas Geisler

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