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KOMmentar: Strava und andere Trainings-Apps – Fünf Gründe gegen das ständige Sich-Vergleichen
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Dienstag, 14. November 2017

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Sport-Apps erfreuen sich stark wachsender Beliebtheit. Sie helfen, Buch über das eigene Training und besonders über dessen Fortschritte zu führen und bieten als soziales Medium einen Austausch unter Läufern oder Radsportlern. Allerdings buhlen sie vor allem als virtuelle Wettkampfplattform um User. Hier wird die Sache für Arne Bischoff vom pressedienst-fahrrad schwierig.

[pd‑f/ab] In der Ausgabe 12/2017 von „Europas Rennrad-Magazin Nr. 1“ lese ich aktuell ein siebenseitiges Special zum Thema „Rekordjagd auf Strava“. Dort prahlt unter anderem der ansonsten sehr geschätzte Buchautor und Fahrstil-Kolumnist Marbod Jaeger in „Krankenhaus statt KOM“, wie er ohne Rücksicht auf Verluste oder Unfälle mit anderen Verkehrsteilnehmern für die Bestzeit „alles riskiert“. Zeit für eine Intervention.

KOM ist gefährlich

Wer sich auf öffentlichen Straßen oder allgemein zugänglichen Wegen auf die Jagd nach einer Bestzeit begibt, gefährdet dadurch unbeteiligte Dritte. Das gilt nicht nur für illegale Autorennen in Berlin oder Köln, die derzeit medial in aller Munde sind, sondern genauso für Radfahrer, deren virtuelle Stoppuhr in der Trikottasche tickt. Die Vollgasjagd nach dem KOM („King of Mountain“, die Bestzeit in einem vorher festgelegten Segment) auf dem schmalen Singletrack hinter der Stadt oder die kurvige Passstraße hinunter kennt kein Innehalten und keine Reserve, sondern ist eine Fahrt an den Grenzen der Physik und des eigenen Könnens. Das allein verbietet sich im öffentlichen Raum. Wer sich und der grenzenlosen Online-Community unbedingt beweisen will, dass er der Schnellste ist, soll sich für ein Radrennen anmelden. Dort stellen die Veranstalter u. a. mit Straßen- und Streckensperrungen sicher, dass Unbeteiligte nicht gefährdet werden.

KOM macht rücksichtslos

Auf der Jagd nach der schnellsten Zeit sind Störungen und Unterbrechungen nicht vorgesehen. Wenn die Stoppuhr den Erfolg oder Misserfolg einer Radfahrt definiert, ist kein Platz mehr für ein spontanes Schwätzchen mit Oma Gisela, die Dackel Waldemar über den Trail führt, oder um sich auf dem Radweg in Ruhe hinter der fröhlich schwatzenden Gruppe Studenten einzureihen. Dann heißt es nur noch: Mit so wenig Zeitverlust wie möglich überholen. Ob sich jemand erschreckt oder ängstigt, was zählt das schon im Vergleich zur Bestzeit in der Community? Schon weit unterhalb einer möglichen Unfallgefahr ist so ein Verhalten rücksichtslos und zudem angetan, Konflikte mit anderen Wegenutzern heraufzubeschwören oder zu verschärfen.

KOM erhöht Nutzungsdruck

Ein Blick auf die globale Strava-Heatmap, die Karte, auf der gezeitete Segmente nach Nutzungshäufigkeit farblich dargestellt werden, verrät sofort: Die Segmente sind überall, also auch an Orten oder über Pfade und Straßen, die sich nicht für eine wettbewerbsmäßige Nutzung eignen. Im Naherholungsgebiet direkt hinter der Stadt, in Naturschutzgebieten, vorbei an Schulen oder über die am stärksten befahrenen Alpenpässe. All diese Wege oder Straßen werden seit Jahren von ortskundigen Radsportlern mehr oder weniger konfliktfrei genutzt. Nun stehen sie einer digitalen Community mit Millionen von Nutzern zur Verfügung. Jedes neue Segment, jeder neue KOM zieht mehr und mehr Menschen an, die sich darauf und daran messen wollen. Und zwar völlig unabhängig davon, ob Wegebeschaffenheit, Auslastung, Witterungsverhältnisse etc. einen solchen Nutzungsdruck überhaupt verkraften.

KOM verursacht Wegesperrungen

Mit dem steigenden Nutzungsdruck steigen auch die Kontroversen, bestimmte Wege für Radsportler zu schließen. Mountainbiker sind davon naturgemäß besonders betroffen. Der schmale Pfad am Hochmoor entlang, wo sich in den letzten Jahren immer neue Spuren ausgefahren haben? Der Singletrack durch den Nationalpark, den verantwortungsbewusste Ortskundige schon seit Jahren zu bestimmten Zeiten oder Witterungsbedingungen nicht fahren? Bald nicht mehr! Befürwortern einer unterschiedslosen Totalsperrung von Wegen kann man kaum bessere Argumente frei Haus liefern als die Nutzungszahlen und Durchschnittsgeschwindigkeiten der Strava-Community. Da können sich die regionalen und lokalen Gruppen noch so sehr um Interessenausgleich und gemeinsame Nutzungskonzepte mit Naturschutz- und Forstbehörden und den Lobby-Gruppen anderer Wege- und Waldnutzer bemühen. Das Beispiel Los Altos Hills in Kalifornien, wo nach der Auswertung der bei Strava veröffentlichten Geschwindigkeiten das lokale Naturschutzgebiet für Biker gesperrt wurde, ist ein erster Ausblick auf die Konflikte, die noch kommen werden.

KOM essen Seele auf

Radfahren allgemein und Radsport im Besonderen kann so viel mehr sein, als der ständige Wunsch, der Schnellste und Tollste zu sein. Doch die Jagd nach dem immer nächsten KOM lässt keinen Platz für die Ausfahrt in leistungs- und erfahrungsmäßig heterogenen Gruppen; keinen Platz für das spontane Naturerlebnis am Wegesrand oder ein gutes Gespräch über das Lenkerende hinweg. Die Jagd nach dem nächsten KOM bedient und befriedigt im Gegenteil vor allem ein narzisstisches Bedürfnis, nicht nur besser zu sein als alle anderen, sondern ihnen das auch noch vor den Augen des versammelten Internets aufs Brot zu schmieren.

Was also tun? Ich persönlich finde, es ist dringend an der Zeit, die Apps zu löschen, die KOMs zu vergessen und sich zu fragen, warum wir eigentlich Rad fahren. Mich macht wütend, wie rücksichtslos die Social-Media-Helden die Folgen ihres Tuns ignorieren. Ich bin mir aber auch sicher, dass viele Radsportler nicht auf Strava und seine Möglichkeiten als Trainings-Tool oder Karten-App verzichten wollen. Das Mindeste wäre jedoch, die absurd testosterontriefende Jagd nach dem KOM einzustellen und endlich wieder das Radfahren in seiner Vielseitigkeit zu genießen, statt es darauf zu reduzieren, wer der dickste Hecht im Karpfenteich ist.

Porträt von Arne Bischoff.Arne Bischoff

 

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