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„Wir sind viele und wir wollen Veränderung“
Freitag, 21. August 2020
*** Bitte beachten Sie: Dieser Artikel ist zwei Jahre alt oder älter. Wir haben ihn nicht gelöscht, weil Inhalte wie Tipps, Hintergründe und Technisches noch immer gültig sind. Ansprechpartner, Produkte und Preise können sich aber zwischenzeitlich geändert haben. Für ein Update rufen Sie uns bitte an! ***
Während der Corona-Zeit wurden Kinderfahrräder sehr stark nachgefragt. Doch der Kauf eines neuen Kinderrades ist nur ein Schritt, damit Eltern das liebgewonnene Elterntaxi stehen lassen und die Verkehrswende anrollen kann. Damit sich Kinder und Eltern sicher auf dem Rad fühlen, braucht es insbesondere Änderungen bei der Infrastruktur. Zum Schul- und Kita-Start in vielen Bundesländern lud der pressedienst-fahrrad zur Gesprächsrunde zu diesem zukunftsweisenden Thema.
[pd‑f/tg] Lückenlose Netzplanung, eine getrennte Führung von Rad und Kfz oder auch mehr Tempo-30-Zonen – das sind nur einige Forderungen an eine familienfreundliche Verkehrswegeinfrastruktur. Auch die Geh- und Radwegebreite muss angepasst werden, wie Tanja Hohenstein, Fachreferentin Fahrrad beim Deutschen Verkehrssicherheitsrat, erläutert. Die im Regelwerk nach den Empfehlungen für Radverkehrsanlangen (ERA) empfohlene Radwegebreite beträgt in Deutschland aktuell zwei Meter. In der Praxis sind Radwege jedoch häufig deutlich schmaler.. „2,50 Meter sollten es aber sein, damit der Radverkehr Platz hat“, meint Hohenstein. Um das umzusetzen, könnte auch der eine oder andere Kfz-Parkplatz wegfallen. „Eine Straße sollte man von außen nach innen planen und mit den Rad- und Fußwegen anfangen. Das Parken von Autos kommt erst zum Schluss“, so die Verkehrsreferentin.
Mehr Platz durch weniger Parkplätze
Welche Diskussionen sich gerade um das Parken drehen, weiß auch Andreas Hombach, Leiter im Key-Account-Management beim Fahrradparkanlagenhersteller WSM: „Es besteht immer die Möglichkeit, einen Pkw-Parkplatz umzubauen, weil immer mehr Menschen mit dem Fahrrad kommen. Es muss nur der Wille da sein, das auch umzusetzen“, sagt er. Vorrangig sei etwa das Errichten von passenden Parkmöglichkeiten vor Schulen und Kindertagesstätten. Die Stellplatzverordnungen, die für Pkw bekannt sind, gelten nämlich auch für Fahrräder. Darin heißt es sinngemäß: Wenn mit Fahrradverkehr zu rechnen ist, müssen auch Fahrradabstellplätze in ausreichender Anzahl und Größe vorhanden sein. „Und das ist sowohl bei Schulen als auch bei Kitas zu erwarten“, ist sich Hombach sicher. In Nordrhein-Westfalen gibt es beispielsweise die Vorgabe, dass an Schulen ein Fahrradabstellplatz je zwei bis vier Schüler vorhanden sein muss. Aber diese Vorgaben werden von vielen Kommunen nicht umgesetzt.
Ein generelles Problem scheint, dass die politische Verantwortung von einem zum anderen geschoben wird. Der Bund stellt Gelder, aber investieren sollen die Bundesländer. Die Länder nehmen wiederum die Kommunen in die Pflicht und am Ende passiert – nichts! „Es gibt genügend Fördergelder, allerdings müssen sie von den Kommunen auch eingesetzt werden“, meint Markus Krill, Geschäftsführer beim Anhängerspezialisten Croozer. In den letzten Monaten wurden insbesondere zweisitzige Kinderanhänger und Cargoanhänger stark nachgefragt. Diese wirken erst einmal äußerst breit, haben aber einen maximalen Radstand von lediglich 80 Zentimetern. „Die Anhänger passen durch jede normale Haustür“, so Krill. Doch viele Radwege sind einfach zu schmal und es kann zu gefährlichen Situationen kommen, gerade wenn Gegenverkehr naht. Für Krill eine unverständliche Lage. „Jetzt ist eine gute Zeit für die Verkehrswende. Die Gelder sollen entsprechend eingesetzt werden“, appelliert er. Allerdings haben viele Kommunen aktuell einen Investitionsstop, weil einfach auch Einnahmen durch die Corona-Phase fehlen.
Um Änderungen anzustoßen, braucht es Druck – und Familien scheinen nun bereit zu sein, sich mehr zu engagieren. „Viele Eltern haben keine Lust mehr auf schlechte Luft und Lärm. Sie wünschen sich mehr für ihr Kind als ein Elterntaxi“, sagt beispielsweise Karen Rike Greiderer. Sie ist Mit-Organisatorin der Kidical Mass in ihrem Wohnort Eberswalde. Die Veranstaltung ist eine Art Fahrradtour mit der Familie durch die Stadt. Angelehnt ist das Konzept an den bekannten Radfahrerdemos der Critical Mass. Allerdings stehen bei der Kidical Mass gezielt die Bedürfnisse von Kindern und älteren Menschen im Mittelpunkt, damit auch diese im Straßenverkehr mit dem Rad sicher vorankommen. Während die meisten Fahrraddemos allerdings nur in Großstädten als Leuchtturmprojekte stattfinden, beteiligen sich an der Kidical Mass über 60 Städte. „Es ist ein erstes Zeichen einer Verkehrswende von unten“, hofft Greiderer. Ähnlich sieht es Alexander Kraft, Pressesprecher bei HP Velotechnik: „Gerade in kleinen Städten muss so etwas stattfinden, es muss raus in die Fläche gehen.“
Eltern müssen Kindern Radfahren beibringen
Eine gute Infrastruktur ist das eine, allerdings muss sie auch genutzt werden – dafür müssen Kinder Radfahren lernen. „Kinder haben Spaß an der Bewegung – und das kann man mit Fahrzeugen wunderbar unterstützen“, sagt Karsten Geisler, Marketingleiter beim Kinderradspezialisten Puky. Radfahren sollte deshalb in jungen Jahren erlernt werden, weil hier einerseits die Fallhöhe geringer ist und andererseits der Bewegungsdrang stark ausgeprägt. Die Eltern nehmen dabei eine entscheidende Rolle ein, weil sie die Kinder bei ihrer Entwicklung unterstützen und auch Vorbild sein können. Fahren die Eltern mit dem Rad, machen es die Kinder nach. „Die Infrastruktur macht wiederum einen großen Aspekt aus: Wenn es keine sichere Infrastruktur gibt, fährt auch niemand“, erklärt Greiderer.
Freizeitmöglichkeiten schaffen
Ein weiterer Punkt wird dabei auch sein, neben Grundschülern auch Jugendliche zu erreichen, die meist andere Interessen neben dem Radfahren entwickeln. Für sie steht nicht nur der sichere Weg zur Schule im Mittelpunkt, sondern sie wollen auch in ihrer Freizeit Spaß haben. Sie brauchen eine andere Art an Infrastruktur. Dazu zählen Bikeparks, Mountainbike-Trails oder auch Pumptracks. Radsportvereine können ebenfalls eine wertvolle Arbeit übernehmen. „Auch E‑Bikes sind ein wichtiges Thema, weil es einfach Spaß macht damit zu fahren,“ sagt Geisler. Jugendliche könnten E‑Bikes genauso als Pendelfahrzeuge nutzen wie Erwachsene und somit auch längere Strecken mit dem Rad zurücklegen. Warum soll das E‑Bike nicht die Bedeutung für Jugendliche bekommen wie in den 80ern das Mofa? „Wir müssen die Politiker nicht mehr überzeugen, sie müssen es endlich kapieren: Wir sind viele und wir wollen Veränderung“, fasst Hombach abschließend zusammen.
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